Öffentliche Meinung

Ein Land ohne Umfragen

d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2019

Genugtuung RTL-Elefantenrunde am Wahlabend 2018: Unlängst war klar, dass Claude Wiseler niemandem am Tisch etwas anzubieten hatte. Die Spitzenpolitiker von DP, LSAP und Déi Gréng bastelten für alle sichtbar an einer Fortsetzung der Dreierkoalition, ohne Blick in Richtung CSV. Da musste Premierminister Xavier Bettel noch etwas loswerden: „Ech wëll drun erënnneren, mir waren an Ären Sondagen bei minus sechs Sëtzer.“ Es war ein sanfter, aber süffisanter Schlag gegen die Medien. Und die RTL-Journalistin Caroline Mart nahm ihn auch als solchen wahr und konterte: „Dir sot dach
ëmmer, Dir géift net un Ëmfroen gleewen?“

Tatsächlich war der 14. Oktober 2018 kein guter Tag für Demoskopen. Zwar entsprachen die Hochrechnungen, die am Wahlabend präsentiert wurden, bis auf minimale Abweichungen dem späteren Wahlergebnis – allein die Umfragen in den Monaten zuvor lagen weit davon entfernt. Sowohl Politmonitor als auch die Sonntagsfrage deckten sich nicht annähernd mit den Ergebnissen. Alle Umfragewerte zwischen 2014 und Juni 2018 deuteten darauf hin, dass die CSV ihre Verluste von 2013 wettmachen und die Regierungskoalition ihre Mehrheit verlieren würde. Demoskopen verwiesen zwar auf den Umstand, dass es sich bei den Umfragen lediglich um „Momentaufnahmen“ oder „Stimmungstrends“ handele und keinesfalls um Prognosen. Aber das Vertrauen in den Erkenntnisgewinn von Umfragen war dennoch deutlich erschüttert.

Seither hat es keine öffentlichen Politumfragen mehr gegeben. Jedenfalls keine, die nach Wahlabsicht der Bürger oder Kompetenz und Beliebtheit der Politiker fragen. Nicht 100 Tage nach Regierungsantritt, nicht vor den Europawahlen, nicht vor der Sommerpause. Es ist eine mehr als einjährige Durststrecke, die nicht nur mit einer 15-jährigen Umfragetradition in Luxemburg bricht, sondern auch gegen den Zeitgeist läuft. Es ist ein Signum des digitalen Zeitalters zu quantifizieren: Nahezu alles wird bemessen und berechnet, Leistung und Erfolg drücken sich in Zahlen aus.

Guilty Pleasure Mittlerweile machen die fehlenden Umfragewerte auch so manchen Politiker ungeduldig. Denn anders, als sie es offen zugeben, stürzen sich viele Politiker geradezu auf Umfragen. „Politiker behaupten gerne, keinen Blick auf Umfragewerte zu werfen, aber es verhält sich natürlich genau umgekehrt“, sagt LSAP-Fraktionschef Alex Bodry. Als etwa der frühere Chamber-Präsident Mars Di Bartolomeo nicht mehr Teil des Politmonitors war, zeigte er sich geradezu empört. Er setzte einige Hebel in Bewegung, um schleunigst wieder Teil des Umfragepanels zu werden. Auch ein Abgeordneter der DP sagt: „Sondage sinn alles, wat Politiker interesséiert.“ Und selbst die besonnene Fraktionspräsidentin der Grünen, Josée Lorsché, will ihr Interesse für Wahlumfragen nicht verneinen, ohne jedoch auf die Trivialität dieses Instruments hinzuweisen. Denn zum gepflegten öffentlichen Umgang mit Umfragen gehören Skepsis und Distanz: Wer allzu sehr mit eigenen Werten kokettiert, gilt als eitel, wer sie zu ernst nimmt, gilt als naiv.

„Tatsächlich bekomme ich die Frage nach dem nächsten Politmonitor oft von Politikern gestellt“, sagt Tommy Klein mit einem Lächeln. Brauner Teint. Offener Hemdkragen. Haare nach hinten frisiert. Klein ist Mitte Dreißig und hat vor zwei Jahren einen Chefposten beim Meinungsforschungsinstitut TNS-Ilres übernommen, nachdem es seinen ehemaligen Mentor Charles Margue nach fünfjähriger Zusammenarbeit in die Politik zog. Die TNS-Ilres ist mit ihren rund 30 Mitarbeitern seit Jahren der unangefochtene Marktführer in Politumfragen. 1989 hat das Institut, das zehn Jahre zuvor gegründet wurde, erstmals Umfragen im Auftrag des Parlaments erhoben. In den 1990-er-Jahren begann die langjährige Zusammenarbeit mit dem Tageblatt, 2004 stieß RTL hinzu. Und 2017 hat das
Luxemburger Wort das Tageblatt verdrängt. „Wir werden bald neue Umfragewerte für unsere Partner ermitteln“, so Klein. Eine Information, die RTL und das Luxemburger Wort bestätigen. Ende Herbst soll ein Politmonitor erscheinen, ob eine Sonntagsfrage, die nach möglichen Wahlabsichten fragt, ebenfalls ermittelt wird, steht noch nicht fest.

Krise Kleins Mimik verändert sich jedoch, wenn er auf das Umfragedebakel von 2018 angesprochen wird. Für ihn handelt es sich um ein großes Missverständnis. Die Ergebnisse seien stichfest, beruhen auf einer wissenschaftlich fundierten Methodologie. Aber es handele sich eben lediglich um Momentaufnahmen. „Wie Politiker, Medien und Öffentlichkeit unser Bruttomaterial interpretieren, können wir nicht kontrollieren“, so Klein. Kurz: Es gibt keinen Grund, die Methodologie infrage zu stellen und von einer Krise der Demoskopie zu reden.

Damit will er auch den Verdacht konterkarieren, dass es seit Juni 2018 keine öffentlichen Umfragen mehr gibt, weil die Presse das Vertrauen in die Ilres und ihre Bemessungsgrundlage verloren hat. Auch das Luxemburger Wort und RTL führen andere Gründe ins Feld, um das Aussetzen von Politmonitor und Sonntagsfrage zu erklären. Für Steve Schmit, stellvertretender RTL-Direktor, gab es unmittelbar nach den Nationalwahlen und um die EU-Wahlen kein öffentliches Bedürfnis nach Umfragen. „Es gab Wahlen, Wahlen, Wahlen. Eine Sonntagsfrage hätte die Menschen wohl kaum interessiert.“ Marc Schlammes, stellvertretender Wort-Chefredakteur und Leiter des Politikressorts, ist zudem der Auffassung, dass Medien nicht als Akteur in Wahlen eingreifen sollten. Die Publikation von Umfragewerten kurz vor Wahlen könnten laut Schlammes das Ergebnis beeinflussen. Damit verzichten die Medien auf ein Recht, das vom Parlament in der vergangenen Legislaturperiode ausgedehnt wurde. Laut Gesetz von 2015 dürfen Umfrageergebnisse bis fünf Tage vor den Wahlen veröffentlicht werden.

Doch Schlammes führt auch an, dass eben nicht nur ethische Bedenken und mangelndes öffentliches Interesse verantwortlich sind für ein ungewöhnlich langes Aussetzen von Umfragen, sondern die Gründe auch bei der Ilres liegen. Das Institut würde ihre Berechnungsmethode überarbeiten. Tommy Klein betätigt das und redet von einem „normalen Vorgang“. Zum einen arbeite das Institut daran, die Wählerschaft wieder besser ins Blickfeld zu nehmen. So lautet ein beliebter Vorwurf von Kritikern: Die tatsächliche Wählerschaft entspreche nicht den Teilnehmern der Wahlumfrage. Ein Teil der Ausgelosten könne nicht telefonisch befragt werden, da sie nicht erreichbar seien oder eine Teilnahme ablehnen. Seit 2016 werden deshalb von der Ilres nicht mehr nur Festnetzte zur Ermittlung von Daten angezapft, sondern auch Mobilfunknummern und Internetabfragen.

Zudem kämpft die Ilres mit der parteipolitischen Zersplitterung und dem Niedergang der Volksparteien. „Sie verlieren an Wähler, wir an Glaubwürdigkeit.“ Man gehe heute von rund einem Drittel Wechselwähler aus, die sich erst kurz vor den Wahlen entscheiden. Ein Albtraum für Meinungsforschungsinstitute: Denn der Wechselwähler ist der Todfeind jeder Umfrage. Seine Spontanität lässt jedes Ergebnis buchstäblich alt aussehen. Die Ilres hat sich darüber hinaus im vergangenen Jahr von ihrem langjährigen Partner Fritz Krauss getrennt, dessen Methodologie seit Jahren die Grundlage bildete. Seither arbeitet sie mit dem deutschen Institut Infratest Dimap zusammen, das auch die Umfragen für die ARD erhebt. Es soll insbesondere ein System entwickelt werden, um das Phänomen des Panaschierens in Luxemburg besser abzudecken. Details dazu gelten als Betriebsgeheimnis.

Kostenfrage Doch auch wenn Luxemburger Wort und RTL Ende des Jahres neue Ergebnisse publizieren wollen, sind öffentliche Politumfragen in Luxemburg doch eher selten. Im Vergleich zu den Nachbarländern geht Luxemburg äußerst spärlich damit um. In Deutschland und Frankreich werden Umfragen von unterschiedlichen Medien und Instituten nahezu wöchentlich erhoben. Sie sind Teil der politischen Kultur, werden begleitend zur politischen Berichterstattung in nahezu allen Presseorganen publiziert. In Luxemburg hingegen sind die seltenen Umfragen geradezu politische Happenings. Die Ergebnisse sollen Schlagzeilen liefern, um Verkaufszahlen und Klickzahlen zu steigern. Und so werden sie während einer Woche interpretiert und sind Kernpunkt der politischen Berichterstattung. Der Grund dafür ist der hohe Kostenaufwand. Denn wissenschaftlich brauchbare Umfragewerte beruhen in nahezu allen Ländern auf der gleichen Anzahl von Umfrageteilnehmern, unabhängig von der Größe des Landes. Auch eine Sonntagsfrage in Deutschland oder den Vereinigten Staaten beruht auf vergleichbarem empirischen Datensatz von rund 3 000 Teilnehmern wie in Luxemburg. Rund 20 000 Euro kostet ein Politmonitor bei der Ilres. Viel Geld für die Medienbranche, die mit Umsatzrückgängen zu kämpfen hat.

Für Jean-Lou Siweck, Editpress-Direktor und früherer Chefredakteur des Luxemburger Wort, sind sie deshalb kein lukratives Geschäft. „Umfrageergebnisse haben einen Exklusivcharakter von fünf Minuten, danach werden sie von allen Konkurrenten übernommen.“ Als der Informationsfluss sich noch nicht über das Internet verbreitete, ließen sich die Auflagen noch mit Umfragen steigern, diese Zeiten sind vorbei, heute sei das nicht mehr möglich. Im Tageblatt wird es deshalb in absehbarer Zeit keine Umfrageergebnisse geben.

Mehr Umfragen wagen Viele Politiker bedauern dabei den seltenen Rückgriff auf das Instrument der Demoskopie in Luxemburg. „Wir machen oft Politik ins Blaue“, sagt etwa Frank Engel, Parteipräsident der CSV. Als er seinen Kollegen der Europäischen Volkspartei im Frühling erklären musste, dass es in Luxemburg keine Umfragewerte zu den EU-Wahlen gebe, waren diese verblüfft. „Die wollten mir das kaum glauben.“ Engel bezeichnet sich nicht als „Umfragefetischisten“, würde es jedoch begrüßen, wenn dem Instrument mehr Beachtung geschenkt würde. Wie steht die Bevölkerung zum Brexit, wie zum Mercosur-Abkommen, und was sind generell die Sorgen der Bürger – Fragen, die man laut Engel durch wissenschaftliche Umfragen ermitteln sollte. Eine regelmäßige Befragung könnte dabei helfen, den politischen Diskurs in Luxemburg zu verbessern. Er stellt sich vor, dass eine unabhängige Institution wie das Parlament oder eine Stiftung die Umfragen koordinieren könnte – oder die Medien würden es als Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags begreifen und die Umfragen durch staatliche Gelder finanziert bekommen.

Auch andere Parteien sind solchen Ideen gegenüber nicht abgeneigt. Josée Lorsché würde eine Zunahme von themenbezogenen Umfragen begrüßen, die den Umgang mit Umfragewerten versachlichen würde. Alex Bodry und Eugène Berger sehen das ähnlich. „Tatsächlich könnten wir uns als Parteien zusammensetzen, um eine Debatte über regelmäßige öffentliche Umfragen zu führen“, sagt Bodry. DP-Fraktionspräsident Berger könnte sich etwa vorstellen, dass die Universität, die im Rahmen der Chaire parlementaire, bereits Wahlforschung betreibt, einen regelmäßigen Auftrag erhält, öffentliche Umfragen zu erheben. Das würde einen nüchternen Umgang mit Umfragewerte erlauben, jenseits von waghalsigen Schlagzeilen, so Berger. Auch der Idee, es als Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags zu definieren, ist er nicht abgeneigt. Für die Parteien hätte eine Zunahme an öffentlichen Politumfragen einen weiteren Vorteil: Sie müssten weniger geheime Umfragen in Auftrag geben.

Und nicht zuletzt: Umfrageergebnisse erzählen Geschichten. Der Fall von Hillary Clinton, die Entgleisung des Schulz-Zugs in Deutschland – ohne regelmäßige Fieberkurven würden diese tragischen Geschichten nicht existieren. Oder auch der erneute Triumph der Dreierkoalition: Erst durch die Umfrageergebnisse erhielt die Geschichte eine Dramaturgie, die es Xavier Bettel erlaubte, in der RTL-Elefantenrunde einen Treffer zu landen.

Pol Schock
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