ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Wahlversprecher

d'Lëtzebuerger Land vom 29.09.2023

Wahlprogramme werden für Berufsverbände, Vereine und andere Lobbys geschrieben. Deshalb müssen sie ins Detail gehen. Sie sind Kompromissangebote an potenzielle Koalitionspartner. Deshalb müssen sie schwammig bleiben.

Dieser Widerspruch gehört zur Psychopathologie des politischen Alltagslebens. Er produziert absurde Wahlversprechen. Aus deren Weltfremdheit, Unangemessenheit, Spitzfindigkeit, unfreiwilligen Komik bricht das wahre Wesen einer Partei hervor.

Die Piraten sind die Partei der zur Wahl gezwungenen Nichtwähler. Die Partei ist ein Potemkinsches Dorf. Die 292 Seiten Wahlprogramm könnten von ChatGPT stammen: „Fësch aus lokaler a biologescher Fëschzucht soll ouni TVA kënne verkaf ginn“ (S. 103).

„Manéiere, Respekt, Pénktlechkeet, Applikatioun, Disziplin solle keng Randerscheinung op der Zensur sinn“, meint das Wahlprogramm von Fokus. Ihre schulische Bewertung müsse „erweidert an iwwerschafft ginn“ (S. 18). Der Wahlverein des ehemaligen CSV-Präsidenten Frank Engel ist konservativ wie die CSV. Den Unterschied sollen forschere Töne und sauberere Fingernägel ausmachen.

Die ADR wagt es nicht mehr, 5/6-Pensionen für alle zu versprechen. Wenn die stramm Rechten ökonomisch versagen, fallen ihnen stets Stechschritt und Marschmusik ein: „Mir féieren d’Garde grand-ducale nees an, déi soll all representativ, zeremoniell a protokollaresch Aufgaben am Staat iwwerhuelen. D’Militärmusek gëtt vergréissert a gëtt Deel vun der Garde grand-ducale“ (S. 270).

Die LSAP ist die Partei des gnadenlosen Reformismus. Mittels „comparution immédiate“ wollen CSV und DP kurzen Prozess mit Kleinkriminellen machen. Die LSAP verspricht: „Nous équiperons les agent∙es de police sur le terrain avec le matériel numérique adéquat pour simplifier leur travail (actuellement, les PV sont manuscrits)“ (S. 128).

Bei Aktionärsversammlungen sind die Stimmen nach dem Kapital gewichtet. Bei Kammerwahlen nicht. Bis es so weit ist, müssen die Big Four Brot und Video-Spiele versprechen: „Die DP wird sich darüber hinaus dafür einsetzen, dass der E-Sport eine olympische Perspektive erhält“ (S. 80). Das Kapitel heißt: „Sport. Gesundheit durch Bewegung“.

Déi Lénk will roter als die LSAP sein. Sie will auch grüner als die Grünen sein. Sie verspricht: „Nous proposons de créer sur le territoire luxembourgeois une réserve de ciel étoilé en établissant un périmètre de protection environnemental“ (S. 38). Auguste Blanqui saß im Kerker. Und träumte von L’Éternité par les astres (Paris, 1872).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Kommunisten von der Klassen- zur Volkspartei werden. Heute zählen sie sogar die normalen Reichen zu ihresgleichen. Sie versprechen „die Wiedereinführung einer progressiven Vermögenssteuer für Super-Reiche“ (S. 2).

Die Grünen sind die Partei der gehobenen Mittelschichten. Zur Armutsbekämpfung fördern sie „das Programm ‚SäiteWiessel‘, welches Führungskräften [...] die Möglichkeit gibt fünf Tage in einer sozialen Institution ihrer Wahl zu arbeiten“ (S. 38). Handelskammer und Bankenvereinigung bieten das Programm im House of Training an als „développement personnel“ für Manager. Es kostet 1 250 Euro. Damit keine Armen daran teilnehmen.

Die CSV will um jeden Preis in die Regierung. Sie will es allen recht machen. Im Kapitel „Logement“ verspricht ihr Wahlprogramm: „Das Denkmalschutzgesetz muss mit Blick auf die Wohnungskrise pragmatisch überarbeitet werden“ (S. 9). Und im Kapitel „Kultur“ das Gegenteil: „Wir werden unsere historischen Ortschaftskerne erhalten. Der Druck am Wohnungsmarkt darf nicht zu deren Zerstörung führen“ (S. 101).

Roy Redings Liberté - Fräiheet! ist ein Schabernack. Wie die seit 23 Jahren versprochene Wissensgesellschaft. Im Wahlprogramm von Liberté - Fräiheet! heißt es: „Eng gutt Allgemengbildung verhënnert datt mir mussen op Produiten esou verréckt Saachen schreiwe wéi ‚dréchent äer Kaz net an der Mikrowell‘!“ (S. 55).

Romain Hilgert
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