EU-Flüchtlingspolitik

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,…

d'Lëtzebuerger Land vom 19.12.2014

…ist nicht der Wahlspruch von Frontex, der europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es kommt auch kein Herr der Herrlichkeit, allenfalls, wenn man Glück hat, ein Schiff das Flüchtlinge aus selbstmörderischen Booten rettet. Die Chancen dafür sind geringer geworden, seit Frontex diese Aufgabe im September von der italienischen Regierung übernommen hat. Diese war nicht mehr willig, ihre Aktion der tätigen Menschenliebe und Rettung der Flüchtlinge vor Mittelmeer und Kriegsschicksal allein aufrechtzuerhalten. Tausende kostbare Leben haben die Italiener gerettet. Frontex hat weniger Geld zur Verfügung und deckt eine deutlich kleinere Fläche zwischen Libyen und Italien ab. Die Gefahr im Mittelmeer zu ertrinken steigt, seit die EU mit ihrer Aktion Triton die Sicherung der Mittelmeergrenze sichert und, als Kollateralschaden, die Rettung von Flüchtlingen organisiert.

Der Zustrom nach Europa erreicht neue Höhen, der syrische Bürgerkrieg klopft immer lauter an die Türen. Über den ganzen Bogen aus Maghreb, Maschrek und Anatolien, von Marokko bis in die Türkei, versuchen Menschen die EU zu erreichen. Im wichtigsten Transitland Libyen gibt es keinerlei Kontrolle, es sei denn über die Ölförderung. Von England, über Frankreich, Deutschland, Dänemark und Schweden hört man Klagen über Einwanderer. Längst bestimmt die Innenpolitik wichtiger Mitgliedstaaten die europäische Politik.

Die Masseneinwanderung erfordert eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik. Es gibt sie nicht. Stattdessen diskutieren einzelne Länder, ob sie nicht besser den Kriterienkatalog der Kanadier oder Neuseeländer für nutzbringende Einwanderung einführen sollen. In Deutschland tragen Migranten Milliarden Euro zum Bruttosozialprodukt bei. Das Land ist nach den USA das am meisten von Migration betroffene Land der Welt und wird alles in allem relativ gut damit fertig. Die europäische Wirtschaft würde ohne Migranten schlecht funktionieren. Ihre Arbeitskraft beschert den Europäern zwar nicht das tägliche Brot, aber einen großen Teil ihres Gemüses.

Die EU hat lange Zeit alles dafür getan, nicht in den syrischen Bürgerkrieg eingreifen zu müssen. Inzwischen fliegen nicht nur belgische und englische Kontingente Angriffe gegen den Islamischen Staat. Mit den Flüchtlingen gibt es nun so etwas wie eine Heimatfront. Günter Grass redet schon davon, dass zur Not die Flüchtlinge in Familien untergebracht werden müssten. Richtig daran ist der Gedanke, dass Flüchtlinge wahrgenommen werden, dass sie willkommen geheißen werden und dass ihnen Wohnraum und Schulen für die Kinder, ärztliche Versorgung und, wo möglich, Arbeit gesichert wird. Die EU braucht eine Debatte über die Lastenteilung und damit einen einheitlichen Ansatz. Diese zweite Stufe haben die Mitgliedstaaten seit 2006 nicht voranbringen können.

Sie haben sich stattdessen 2008 auf eine Liste von sechzehn Punkten, acht zu legaler und acht zu illegaler, Einwanderung geeinigt, die sie gemeinsam und freiwillig umsetzen wollen. Die EU lobt Initiativen zur Förderung freiwilliger Rückkehr und verpflichtet sich, „eine ambitionierte Politik zu verfolgen, um eine harmonische Integration der Migranten zu fördern“. In der Wirklichkeit will David Cameron sein Land für EU-Bürger dicht machen und den Zugang filtern, klagen deutsche Kommunen über innereuropäische Armutseinwanderung und platzen in vielen Ländern die Flüchtlingsheime aus allen Nähten.

Deutschland hat seit 2011 mehr als eine Million Menschen aufgenommen, zuletzt hauptsächlich aus dem Nahen Osten. Zwei Drittel aller Befragten in einer neuen Umfrage erwarten einen starken Anstieg der Flüchtlingszahlen im nächsten Jahr. Krieg oder Bürgerkrieg wird als Aufnahmegrund von 87 Prozent akzeptiert. Vielleicht ist die europäische Bevölkerung in ihrer Mehrheit doch aufnahmebereiter, als es die Stimmen für populistische Parteien nahelegen. Ein funktionierender Arbeitsmarkt ist allerdings eine wichtige Voraussetzung. Dass es daran in vielen Mitgliedstaaten mangelt, ist bekannt.

Eine europäische Migrationspolitik müsste Geld an die Hand bekommen und die Möglichkeit, Migranten frei in Europa anzusiedeln. Im Idealfall entstehen daraus Kompetenzzentren, im Alltag eher geregelte Ansiedlungen unterstützt durch eine solide Transferleistung durch die EU. Wenn Europa gezielt in seine Migranten investieren würde, könnten daraus bisher unbekannte Geschäftsfelder und Wirtschaftsleistungen entstehen. Geregelte Zuwanderung ist die dringend benötigte Blutzufuhr für alternde Gesellschaften. Europa kann sich verjüngen, wenn es sich auf seine Migranten einlässt. Neue Ideen braucht es ganz gewiss. Frontex darf nicht die einzige praktische Antwort europäischer Flüchtlingspolitik bleiben.

Ein Anfang ist jetzt gemacht. Das Europäische Parlament stimmte diese Woche einem neuen Fonds von drei Milliarden Euro in sieben Jahren für Asyl und Migration zu, in den alle Mitgliedstaaten einzahlen müssen. Zusätzlich müssen sie zuhause in Integrationsmaßnahmen und Grenzsicherung investieren. Für von anderen EU-Staaten übernommene Migranten soll es ein Kopfgeld von 6 000 Euro geben. Das EP betonte in einer Note, dass seine Zustimmung zum Fonds nicht seine Haltung ändere, dass Migrationsfragen im allgemeinen Gesetzesverfahren, das heißt gemeinsam, geregelt werden müssten. Im Klartext: Die EU-Staaten bestimmen weiterhin allein die Politik.

Christoph Nick
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