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d'Lëtzebuerger Land du 16.11.2018

Die Geschichte beginnt mit einem ungeheuerlichen Vorfall: Die elfjährige Alice berichtet ihrem Bruder Max unter Tränen, ein Fremder habe sie im Escher Lavalspark angefasst. Max soll versprechen, dass er nichts weitersagt und sie fortan beschützt. Das ist leichter gesagt als getan, denn Max’ und Alice’ Eltern leben getrennt und haben die Kinder unter sich aufgeteilt. Erste Variation des Titels, scheint es: der Konflikt der Eltern, bei dem die Kinder zwischen die Fronten geraten.

Es gelingt dem bis dahin eher unbeliebten Klassenprimus Max, ein paar Mitschüler und seine ältere Cousine dazu zu bewegen, eine „Clique“ zu gründen und ihm bei der Suche nach dem Fremden aus dem Park zu helfen. Zweite Variation des Titels: die Ungleichheiten zwischen den Kindern, die Reibereien im Sozialsystem Schulklasse, die zu Gruppenbildung und Ausgrenzung führen – etwa des einzigen Italieners in der Klasse.

Da er das Geheimnis seiner Schwester nicht verraten will, tarnt Max seine Suche als Jagd nach einem Kommunisten. Ein Kommunist hat, wie Max behauptet, den Escher Sozialisten einen Geldkoffer gestohlen, um das Geld für Propagandazwecke auszugeben. Diesen Mann soll die „Clique“ finden. Dritte Variation des Titels also: der Hinweis auf den Kalten Krieg und die politischen Spannungen der sechziger Jahre bis in die Lokalpolitik hinein. Max findet heraus, dass sein Vater beim Geheimdienst Telefongespräche abhört. Auch in seiner Grundschulklasse gibt es Diskussionen über die „rote Gefahr“. Auf die andere Seite des politischen und ideologischen Spektrums stellt Jhemp Hoscheit in seinem neuen Roman Wootleche Krich jedoch nicht den Kapitalismus, sondern die katholische Kirche. Auch auf dieser Seite stehen Verdächtigungen und Gefahren im Raum. Im Pfarrhaus wurden Messdiener „unsittlich berührt“, wie es heißt. Das Gerücht verbreitet sich, eine Ladenbesitzerin erhält anonyme Drohbriefe. Alle versuchen, den Überblick zu behalten und Herr über ihr Schicksal zu werden: die Kinder sowohl wie ihr Lehrer und ihre Eltern.

Überzeugend ist Hoscheits Roman vor allem als Stimmungsbild einer Epoche und einer Stadt, sowohl was Details angeht – die Musik, die die Figuren hören, was sie essen, wie sie wohnen –, als auch, was ihre Gewohnheiten und Denkweisen betrifft. Dabei handelt es sich um mehr als bloße Dekora­tion für die Haupthandlung. Die Figuren sagen „mär“ und „där“ und „gell“, aber aus der Sicht des Grundschullehrers Merges wird auch die Veränderung des Stadtbildes und der Zusammensetzung der Stadtbevölkerung reflektiert. So wird ein Buch, das sich insgesamt eher an ein junges Publikum richtet, auch für ein Erwachsenenpublikum interessant.

Bemerkenswert ist auch Hoscheits Fähigkeit, dem Leser die Beweggründe von Handlungen und damit ein Gefühl der Empathie für nahezu alle Figuren zu vermitteln, die seinen Roman bevölkern, Kinder wie Erwachsene. Allerdings macht das Interesse für eine Vielzahl von Figuren auch die größte Schwäche des Romans aus. Wootleche Krich ist ein unentschlossenes Buch: Es legt sich nicht auf einen Figurenkreis (etwa den der Kinder) fest, und damit auch nicht auf eine Perspektive. Der Hintergrund des Kalten Krieges und der strukturelle Einfall, die politische Thematik auf private und gesellschaftliche Beziehungen zu übertragen, gerät nach und nach aus dem Blick. Auch gelangt die Auseinandersetzung mit dem politischen Hintergrund kaum über das heraus, was die jungen Protagonisten davon verstehen: Der Kalte Krieg bleibt ein Phantasma. Indem sich eine Vielzahl von Handlungsträgern den Fokus der Handlung teilen, ufert die Erzählung aus: Die Suche der „­Clique“ nach dem Fremden im Park wird ergänzt durch die privaten Sorgen der Kinder, durch die Sorgen ihrer Eltern und manchmal noch durch die Sorgen der Großeltern. Auch der Lehrer Merges nimmt viel Raum ein, in einer berührenden Nebengeschichte, die am Ende aber nur dürftig mit der Geschichte der Kinder verbunden wird. Diese strukturelle Schwäche macht sich vor allem am Ende des Buches bemerkbar, als es darum geht, die verschiedenen Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Das ist einerseits mit großem erzählerischem Aufwand verbunden (es tauchen sogar die Verfasser der Evangelien als Ersatz für den Deus ex machina auf), da der Autor es sich nicht nehmen lässt, den meisten Figuren eine traumgleiche Wunsch­erfüllung anzudichten. Andererseits hinterlässt die Zusammenführung der einzelnen Geschichten auch merkwürdige Leerstellen: Von der Theateraufführung, auf die die Mitglieder der Kinderclique wochenlang hinarbeiten, wird nichts berichtet.

Eine Leerstelle ergibt sich auch angesichts eines wichtigen Konflikts in diesem Roman, der den Gegebenheiten der Zeit entsprechend ungelöst bleiben muss: Macht und Machtmissbrauch der Kirche werden nur über Umwege dargestellt. Der Geistliche, der sich an Kindern vergangen hat, taucht als Figur kaum in Erscheinung; die Beweggründe der Drohbriefeschreiberin bleiben ebenfalls weitgehend im Dunkeln. Mit der Empathie hört auch das Erzählen auf.

Jhemp Hoscheit: Wootleche Krich. Roman, Éditions Guy Binsfeld, Lëtzebuerg 2018; 414 Seiten,
ISBN 978-99959-42-46-5. 24 Euro.

Elise Schmit
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