LEITARTIKEL

Evolution

d'Lëtzebuerger Land vom 21.01.2022

Am Dienstag will das Parlament in erster Lesung über das zweite Kapitel der Verfassungsreform abstimmen. Es behandelt die Organisation des Staats, des Großherzogs und der Monarchie, der Regierung und der Gemeinden. Eine „Revolution“ sei der neue Text nicht, sagte Berichterstatter Mars Di Bartolomeo (LSAP) vor einer Woche auf einer Pressekonferenz, dieser Begriff treffe eher auf den Verfassungsvorschlag der Linken zu, der von den anderen Parteien geflissentlich ignoriert wurde. Das Projekt von DP, LSAP, Grünen und CSV sei hingegen eine „Evolution“, um die rund 40 Mal abgeänderte Verfassung von 1868 an die liberaler gewordene Gesellschaft anzupassen. Nach den Bestrebungen der ADR und ihr nahestehenden Kreisen, das zweite Votum über das erste Kapitel durch eine Volksbefragung zu ersetzen, sieht sich das Parlament nun unter Zugzwang. Zwar verfehlten sowohl die öffentliche Petition 2007 als auch die Bürgerinitiative ihr politisches Ziel, die Reform zu sabotieren, doch die Falschinformationen, die die ADR gestreut hat, sind in Teilen der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden gefallen. Insbesondere der Vorwurf mangelnder Bürgerbeteiligung und unzureichender Information der Öffentlichkeit blieb haften.

Deshalb hat die Kammer in dieser Woche eine Broschüre an sämtliche Haushalte verschickt, in der die Inhalte der Reform noch einmal in den drei Landessprachen erklärt werden. In einem kulturell und sprachlich vielfältigen Land ist das keine Revolution, vielleicht nicht mal eine Evolution. An den Parlamentswahlen dürfen die vielen Expats und Arbeitsmigrant/innen sich zwar nicht beteiligen, an den Kommunalwahlen aber schon. Schließlich betrifft die Verfassung nicht nur Staatsbürger/innen, sondern alle Menschen mit Bürgerrechten.

Noch verletzender als der Vorwurf fehlender Information empfindet die Kammer aber den von mangelnder Bürgerbeteiligung. In ihrer Broschüre verweist sie erneut auf das Referendum von 2015, die Kampagne Är Virschléi und eine Bürgerbefragung von Uni und TNS Ilres. Zwar wurden diese Initiativen noch im Hinblick auf den 2008 von Paul-Henri Meyers (CSV) hinterlegten Revisionsvorschlag 6030 durchgeführt, der 2019 von den vier großen Parteien formal verworfen und in vier Kapitel zerlegt wurde; trotz einiger Abänderungen handelt es sich aber größtenteils um den gleichen Text. Insbesondere das Referendum von 2015 war nicht unschuldig daran, dass die Reform nun lediglich eine Evolution darstellt. Wären das Wahlrecht für Nicht-Luxemburger, die Senkung des Wahlalters und die zeitliche Begrenzung der Regierungsmandate auf Zustimmung gestoßen, hätte man durchaus von einer kleinen Revolution reden können.

Schon 2015 hatte die ADR mit Unterstützung von Fred Keup eine Hetzkampagne gegen das „Ausländerwahlrecht“ geführt. 80 Prozent der Wähler/innen durften sich damals so fühlen, als hätten sie mit ihrer Stimme die Heimat vor einer „fremden Übernahme“ gerettet. Heute ist die Stimmung ähnlich aufgeheizt. Corona ist daran nicht alleine Schuld, auch die ADR trägt wieder eine Mitverantwortung. Bei den letzten Umfragen waren sie und die Piraten, die 2018 einen Groupe technique gebildet hatten, die Gewinner. Um eine Zwei-Drittel-Mehrheit zu verhindern, reicht es zwar nicht, doch in den kommenden 20 Monaten kann noch so manches passieren.

Deshalb wären die vier großen Parteien gut beraten, alle vier Kapitel bis Oktober 2023 durch das Parlament zu bringen. Ansonsten könnte die Reform kurz vor dem Ziel noch scheitern. Unwahrscheinlich ist das nicht, denn damit sie umgesetzt werden kann, werden noch eine ganze Reihe von Ausführungstexten und neuen Gesetzen gebraucht, die erst ausgearbeitet werden müssen. So kann die zweite Abstimmung über das Justizkapitel erst erfolgen, wenn die Gesetze über den Justizrat und den Statut der Magistrate vorliegen. Wann das sein wird, ist noch unklar. Die Zerstückelung hat sicher nicht dazu beigetragen, dass die Reformprozedur einfacher wird. Sollte nur ein Kapitel nicht angenommen werden, würde eine „unmögliche Situation“ entstehen, wie es Paul-Henri Meyers vorsichtig im Wort ausdrückte. Um eine institutionelle Krise zu vermeiden, wäre es womöglich klug, seinem Rat zu folgen, und alle vier Kapitel in zweiter Lesung zusammen zu verabschieden.

Luc Laboulle
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