Verspätet, vergessen

d'Lëtzebuerger Land vom 19.03.2021

„Koordination und Kommunikation laufen gut“, sagt Corinne Cahen. „Ich sitze gerade mit Vertretern der Gesundheitsdirektion zusammen.“ Die DP-Familienministerin hatte selbst zum Telefon gegriffen: D’Land war von mehreren Personen mit Behinderungen kontaktiert worden, die sich nicht ausreichend über die Impfstrategie informiert fühlten. „Die wird vom Gesundheitsministerium organisiert“, verweist Cahen auf die Zuständigkeiten.  

Die Impfstrategie der Regierung basiert auch bei Menschen mit Behinderungen auf medizinischen und epidemiologischen Erwägungen des Conseil supérieur des maladies infectieuses: In der ersten Phase wurden Bewohner/innen von Alten- und Pflegeheimen sowie von Behinderteneinrichtungen und das Gesundheitspersonal vorrangig geimpft. In Pflegeheimen zirkulierte das Virus besonders heftig. Um das Risiko von Infektionsketten in Behindertenstrukturen zu verhindern, wurden deren Bewohner/innen ebenfalls in die erste Phase aufgenommen.

Die Betreffenden wurden im Januar per Brief über die Impfprozedur informiert und, wenn sie es wollten, Anfang Februar das erste Mal und Anfang März dann das zweite Mal geimpft. Zuvor hatten die Heimleitungen impfwillige Bewohner/innen den Gesundheitsbehörden gemeldet. Ein mobiles Team, bestehend aus einem Arzt und einer Person, die für den Transport des gekühlten Impfstoffs zuständig ist, kam ins Heim. Verabreicht wurde das Vakzin von geschultem Pflegepersonal vor Ort.

Carine Nickels, Bewohnerin eines Heims in Dalheim das der Fondation Kräizbierg untersteht, meint: „Das hat super geklappt. Für ein Mal hatte ich das gute Gefühl, dass wir von Anfang an bedacht wurden.“ Fragen zum Impfstoff, in ihrem Fall von Pfizer-Biontech, zu Risiken und Nebenwirkungen konnten Heimbewohner im vertraulichen Gespräch mit der Ärztin abklären. „Ich fand alles sehr gut erklärt“, so Nickels, die seit einem Verkehrsunfall im Rollstuhl sitzt. 

Marion Kamper koordiniert für die Apemh die Gesundheitsversorgung zu Covid-19. Der Verein ist auf Hilfen für Menschen mit mentalen Behinderungen spezialisiert, darunter Werkstätten und Wohnheime: „In den zehn Strukturen waren die mobilen Teams Anfang Februar und Anfang März zum Impfen da.“ Die Spritze setzten Pfleger/innen vor Ort. „Das war ein organisatorischer Kraftakt, den wir zusätzlich stemmen mussten“, so Kamper, die mit dem Ablauf zufrieden ist: Nach beiden Impfungen wurden keine Nebenwirkungen gemeldet, „nur ein bis zwei“ Bewohner hätten sich gegen eine Impfung entschieden. Laut Gesundheitsdirektion liegt die Impfquote in den Behindertenheimen bei fast 92 Prozent. 

Trotzdem drohen Impf-Lücken. Menschen mit Behinderungen, die nicht in Heimen wohnen, fallen nicht in die erste Phase, sondern werden klassifiziert wie andere Bürger/innen auch. Auch dann nicht, wenn sie mehrfachbehindert sind, in einem Atelier arbeiten und von mehreren Personen betreut werden. „Wir sorgen uns um die Vermischung von geimpften Klienten und solchen, die es nicht sind“, sagt Christophe Lesuisse, Generaldirektor der Stiftung Tricentenaire, die mehrere Behindertenwerkstätte und Tagesheime leitet. „Sie fahren alle mit demselben Bus, sind den ganzen Tag zusammen, aber nicht im selben Maße geschützt“, erklärt Lesuisse.

„Die Regierung hat nur an jene gedacht, die in Institutionen leben. Dabei fördert die UN-Konvention Autonomie von Behinderten“, so eine Mutter enttäuscht. Ihre behinderte Tochter geht zwar ins Tageszentrum des Tricentenaire, wohnt aber bei ihr. Aufgrund ihrer Behinderung versteht sie die sanitären Schutzmaßnahmen nicht und trägt keinen Mund-Nasen-Schutz: „Ich kann meine Tochter nirgendwo mitnehmen.“ Sie und andere Angehörige haben sich verzweifelt beim Behindertenverband gemeldet, weil sie sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen.

Die Behinderten-Beratungsstelle Info-Handicap forderte per Brief Gesundheits- und die zuständige Familienministerium auf, alle behinderten Personen vorrangig zu impfen, nicht nur jene, die in Einrichtungen leben und betreut werden. „Bisher haben wir keine Antwort bekommen“, bedauert Info-Handicap-Leiter Olivier Grüneisen. „Im schlimmsten Fall riskieren diese Menschen, von der Impfkampagne nicht erfasst zu werden“, fürchtet Marion Kamper von der Apemh. Manche seien geistig und körperlich behindert. „Wer informiert sie, wenn sie nicht selbst beim Doktor anrufen?“, fragt Kamper.

Das Gesundheitsministerium betont indes, es folge den Empfehlungen des Ethikrats: Ihmzufolge sind zuerst diejenigen zu impfen, die das höchste Risiko tragen. Der Rat hat auch Menschen mit Behinderungen in die erste Impfphase einbezogen, ebenso wie ihr Pflegepersonal und etwa Busfahrer/innen. „Ich lese das Gutachten so, dass alle Menschen mit Behinderungen und ihr direktes Umfeld vorrangig geimpft werden sollten, auch die zuhause,“ betont eine Mutter, die zugleich Anwältin ist. Die Folgen für ihre Tochter und für andere Betroffene seien gravierend: Sie haben die Wohnung seit Monaten nicht verlassen, aus Angst sich oder andere anzustecken. Sie müssen warten, obwohl sie nicht so mobil sind wie gesunde Menschen und auf Hilfen angewiesen; die anhaltende freiwillige Selbstquarantäne setzt manchen indes psychisch stark zu. Außerdem fallen wegen der anhaltend hohen Infektionsrate und Quarantänemaßnahmen Hilfsleistungen oftmals aus.

Sogar bei Behinderungen, die der Impfplan als vorrangig einstuft, läuft nicht alles rund. Zur zweiten Phase zählen Menschen mit einem Down-Syndrom. Sie haben ein fünf Mal höheres Risiko mit Covid-19 in der Klinik zu landen und ein zehn Mal größeres Risiko am Krankheitsverlauf zu sterben. Forscher/innen gehen davon aus, dass sowohl genetische Faktoren als auch die Trisomie-21-typische Anatomie (schmalere Kiefer, größere Zungen) sie anfälliger machen für schwere Atemwegserkrankungen.

„Mein Sohn wurde am 17. Februar geimpft“, erzählt die Mutter von R.W., die anonym bleiben will. Der junge Mann arbeitet in der Großküche eines Heims und bekam seinen Impftermin gemeinsam mit den Bewohner/innen: Dort wohnen viele Ältere. R.W. lebt mit seinen Eltern und nimmt jeden Tag den öffentlichen Bus zur Arbeit. Patrick Hurst, selbst blind, wohnt in einer behindertengerechten Anliegerwohnung neben dem Heim – auch er wurde vom mobilen Team geimpft. „Mit dem Impfstoff von Pfizer-Biontech. Außer leichten Schmerzen an der Einstichstelle hatte ich keinerlei Beschwerden“, sagt Hurst.

Für R.W. galt das nicht: Anders als vom Gesundheitsamt angekündigt, wurde er mit dem Vakzin von Astrazeneca geimpft. Am Tag der Impfung erfuhren er und seine Mutter, der Pfizer-Impfstoff sei nicht lieferbar. „Ich war überrumpelt und fühlte mich gar nicht gut, ihn mit Astrazeneca impfen zu lassen“, sagt seine Mutter. Da war der Impfstoff der britisch-schwedischen Firma Astrazeneca, den diese gemeinsam mit Forschern der Universität Oxford entwickelt hat, in den Nachrichten wegen unklarer Wirksamkeit gegen Corona-Virusmutationen und weil zunächst noch Daten zur Wirkung bei über 65-Jährigen fehlten.

Der unangekündigte Wechsel auf Astrazeneca sorgte nicht nur bei Betroffenen und Angehörigen für Verdruss und Verunsicherung: Auch Gesundheits-personal wurde nicht im Vorfeld über den Wechsel des Vakzins informiert; im November hatte es so geklungen, als könnte jede/r zwischen mehreren Impfmitteln wählen. Doch es fehlt an Impfstoffen, Biontech und Moderna kommen mit der Produktion ihrer mRNA-Vakzine nicht hinterher. Beim Astrazeneca droht indes der Impfstau, weil Leute verunsichert sind und lieber abwarten. „Das Hin und Her schadet der Impfstrategie“, bedauert Marion Kamper. Die Luxemburger Regierung hat, mit zehn weiteren EU-Ländern, die Verimpfung einer Astrazeneca-Charge wegen ungeklärter Thrombosefälle gestoppt; eine Entscheidung, die von Medizinern kontrovers bewertet wird, die das Vertrauen in den Impfstoff nicht eben stärken dürfte. Ob die EU-Arzneimittelagentur Ema ihm am Donnerstag wieder grünes Licht gab, war bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch unklar.

Die Gesundheitsdirektion hat inzwischen klargestellt, die zweite Dosis sei „prinzipiell garantiert“; bloß hat die Nachricht offenbar nicht alle Betroffenen erreicht. „Ich musste mir die Information selbst suchen“, ärgerte sich die Mutter von R.W., der auf seine zweite Impfung wartet. Geduld ist gefragt, denn das Infotelefon der Behörden ist häufig überlastet.

Auch Info-Handicap sammelt Covid-19-Informa-tionen. „Ich kann nur das weitergeben, was wir vom Gesundheitsministerium bekommen“, betont Olivier Grüneisen. Da der Informationsfluss immer wieder stockt, hat sein Verein mehrfach bei den jeweiligen Ministerien interveniert. Beim Aufklärungsvideo zur Impfstrategie fehlte der Ton. „Für Menschen mit Sehbehinderungen unbrauchbar“, sagt Grüneisen. Wertvolle Zeit gehe verloren, bis wichtige Broschüren in leichte Sprache übersetzt sind. Wegen komplizierter Prozeduren und komplexer Sachverhalte ist es selbst für Profis schwer, den Überblick über die Aktualität zu behalten. Einige Vereine haben kurzerhand eigene Übersetzungen ins Netz gestellt. Das Familienministerium hat wohl behindertengerechte Informationen in Auftrag gegeben, ein Video in Gebärdensprache etwa, doch es mangelt an Übersetzer/innen, und ein Jahr nach Beginn der Pandemie fehlt noch immer eine integrierte systematische Kommunikationsstrategie für Menschen mit Behinderungen: „Sobald etwas kommuniziert werden muss, sollte ein Team von spezialisierten Fachkräften die Informationen für die jeweiligen Zielgruppen direkt übersetzen“, findet Sylvie Bonne von Klaro, ein Dienst, der Übersetzungen in leichter Sprache organisiert.

Manche wissen nicht einmal, ob sie überhaupt geimpft werden können: Menschen mit seltenen Krankheiten etwa. „Wahrscheinlich dauert es, bis die Forschung Antworten liefern kann“, vermutet Carol Mousel vom Verein Trisomie 21. Sicher weiß sie es nicht. Früh schon hatten Organisationen wie Info-Handicap gefordert, Teil des Krisenstabs zu sein. Das Anliegen sei mit der Begründung, diesen bewusst klein zu halten, um handlungsfähig zu bleiben, abgelehnt worden, erzählt Grüneisen. Das Familienministerium vermittelt zwischen Heimträgern, Vereinen, Betroffenen und Gesundheitsministerium.

In punkto Inklusion gibt es aber selbst dort Verbesserungsbedarf: Informationen zu Behindertenheimen wurden im ersten Lockdown nachgereicht, kamen spät oder wurden vergessen, obwohl deren Bewohner/innen von Besuchsbeschränkungen besonders betroffen waren. Corinne Cahen hat wohl zu Menschen mit Behinderungen kommuniziert; in anderen Ministerien indes findet das Thema oft erst auf Nachfrage Beachtung. Eltern von Kindern mit Förderbedarf etwa klagen bis heute, wenig brauchbare Hilfestellungen zum Homeschooling aus dem Erziehungsministerium zu erhalten. Im öffentlichen Transport ist der vordere Eingang beim Fahrpersonal aus sanitären Gründen abgesperrt; für Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, eine zusätzliche Hürde. Ärgerliche Details, die sich vermutlich beheben ließen, wenn nur alle Inklusion von Anfang an mitdächten und umsetzten.

Ines Kurschat
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