ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Leben und sterben lassen

d'Lëtzebuerger Land vom 19.03.2021

In einer Auswertung des Large Scale Testing auf Covid-19 in Luxemburg hieß es vor drei Wochen: „Individuals with a disposable household income of less than 30k€/year had the highest odds of being tested positive (OR 1¢87 [1¢53-2¢28] when compared to people with 30k€-60k€/year)“ (The Lancet Regional Health – Europe, 4/2021, S. 6). Gegenüber Radio 100,7 wiederholte einer der Autoren, Paul Wilmes, am 4. März: „Den Haaptfacteur, fir positiv getest ze ginn, ass, datt een e Joresakommes vun ënner 30 000 Euro huet.“

Zur gleichen Zeit wurde bekannt, dass verschiedene Personen gegen Covid-19 geimpft worden waren, die erst Monate später an die Reihe kommen sollten. Dabei handelte es sich um Firmenchefs und ehemalige Minister. Männer, die nicht gewohnt sind, Schlange zu stehen. In der Klassifizierung der Lancet-Studie sind es Leute mit Jahreseinkommen von „90k€+“, mit Betonung auf „+“.

Dass niedrige Einkommen das größte Gesundheitsrisiko in der Seuche darstellen, stößt kaum auf öffentliches Interesse. Umso mehr Empörung verursacht die Vorzugsbehandlung von Leuten mit hohen Einkommen. Mittelschichten sind also die Meinungsmacher.

Der gemeinsame Nenner von Einkommensrisiko und Impfprivileg ist die Rücksichtslosigkeit. Mit gleicher Vehemenz erleiden die einen und üben die anderen Rücksichtslosigkeit. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Annie Cot schätzte, dass wir durch die Corona-Seuche einen „moment foucaldien“ erleben (Le Monde, 20.4.2020). In einem solchen Moment bricht die Rücksichtslosigkeit unverhüllt zu Tage.

Laut Michel Foucault kam im 19. Jahrhundert eine neue Form der Machtausübung auf: „Le droit de souveraineté, c’est donc celui de faire mourir ou de laisser vivre. Et puis, c’est ce nouveau droit qui s’installe: le droit de faire vivre et de laisser mourir“ (Il faut défendre la société, S. 214). „Ce bio-pouvoir a été, à n’en pas douter, un élément indispensable au développement du capitalisme; celui-ci n’a pu être assuré qu’au prix de l’insertion contrôlée des corps dans l’appareil de production et moyennant un ajustement des phénomènes de population aux processus économiques.“ Biopolitiken „ont opéré aussi comme facteurs de ségrégation et de hiérarchisation sociale, agissant sur les forces respectives des uns et des autres, garantissant des rapports de domination et des effets d’hégémonie“ (La volonté de savoir, S. 186).

Wann et un d’Liewegt geet, sind der Rücksichtslosigkeit und Vehemenz der Biopolitik kaum Grenzen gesetzt. Dem pflichtete die Regierung bei: Sie gewährte Beschäftigten von Alters- und Pflegeheimen mit Löhnen über 30k€ Corona-Impfungen, jenen mit weniger als 30k€ nicht. Zum Vorwand für ihr „droit de faire vivre et de laisser mourir“ nahm sie Spitzfindigkeiten in den Arbeitsverträgen von Putzfrauen.

Der Soziologe Stephan Lessenich stellte fest: „Tatsächlich aber war es nicht etwa pauschal und allgemein das Leben, das ‚für viele demokratische Regierungen‘ plötzlich zählte. Vielmehr sind es bestimmte Leben, deren Schutz und Rettung sich die Exekutivgewalten der demokratisch-kapitalistischen Industrienationen verschrieben haben. Sie betreiben keine ‚Politik des Lebens‘ ohne Wenn und Aber, sondern eine Politik mit dem Leben“ (Berliner Journal für Soziologie, 2/2020, S. 221).

Einkommensrisiko und Impfprivileg haben einen ursächlichen Zusammenhang. Die Weigerung, solche Zusammenhänge zu erkennen, erklärte der Soziologe Oliver Nachtwey für Deutschland: „Schließlich müsste man dann ja zugeben, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist und Menschen aus der Unterklasse ein höheres Infektionsrisiko haben. Es wird permanent versucht, jegliches Klassenbewusstsein aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszuhalten“ (Süddeutsche Zeitung, 10.3.21). Diesen Vertuschungsversuch wussten die Herren Schiltz, Grethen und Co. zu vereiteln.

Romain Hilgert
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