Das Land hat sich über die landwirtschaftliche Vision eines Großbetriebs erkundigt

Das Melkkarussell

Etwa 10 Minuten dreht die Kuh  im Kreis
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 02.12.2022

In einem Jungviehstall liegen und fressen im vorderen Bereich ein paar Wochen alte schwarz-weiß und braun-weiß gescheckte Kälber in mit Einstreu bedeckten Boxen. Auf dem Futtertisch befindet sich reichhaltige Nahrung: eine Mischung aus Stroh, Mais, Weizen, Raps und Pflanzenöl, das die Mischung bindet. In einem Seitenbereich stehen kleinere Boxen mit ein paar Tagen und Stunden alten Kälbchen. Etwa zehn werden täglich auf diesem Betrieb geboren. Er ist einer der größten des Landes, täglich werden hier 1 200 Milchkühe gemolken, mit der Jungzucht und den Angusrindern für die Fleischproduktion komme man auf 3 000 Rinder; der Hof hat 30 Mitarbeiter und bewirtschaftet im Umland über 1 500 Hektar.

Warum findet der Landwirt sein Modell überzeugend? „Auf diesem Betrieb findet eine reibungslose Arbeitsteilung statt, jeder Mitarbeiter kümmert sich um das, was er kann. In Betrieben ohne Angestellte sind die Bauern Buchhalter, Schlosser, Kuhhalter, Tierarzt, Mechaniker und Psychologe für Lehrlinge – in einer Person.“ Dann scherzt der freundliche, eher schmächtige Landwirt, der anonym bleiben will: „Sie als Journalistin sind ja nicht auch noch neben ihrem Beruf Bäckerin und Taxifahrerin.“ Größere Betriebe könnten effizienter arbeiten: Die Gülle fließe hier direkt in die Biogasanlage, man produziere grünen Strom, heize damit das ganze Dorf sowie die 150 Einwohner eines Heimes. Durch die Biogasanlage gefilterte Gülle sei zudem nahrhafter für die Pflanzen. „Ist dir schon aufgefallen, dass es hier nicht so stinkt, wie in alten Ställen?“, fragt der Landwirt. Das läge an dem planbefestigten Boden, der durch einen Schieber von den Exkrementen befreit wird. Da hierbei Gärungsprozesse vermindert werden, würden die Ammoniak-Emissionen nicht so hoch ausfallen. Durch die Digitalisierung habe das Agrar-Unternehmen zudem den Düngerbedarf optimiert, die datengestützte Melkanlage überwache die Gesundheit der Tiere und ein Futterberater berechne ideale Futtermischungen. Ein Betrieb könne 1 000 Hektar effizienter bewirtschaften, als zehn unterschiedliche Höfe 100 Hektar, so seine Argumentation.

Der Betrieb liegt in einem beschaulichen Dorf. Ihn übernahm das Ehepaar in den 1990-er-Jahren und hielt anfangs nicht mehr als 35 Milchkühe. Auf einem Hügel steht der nach der Abschaffung der Milchquoten im Jahr 2015 gebaute Stall, in dem das Melkkarussell 18 Stunden am Tag läuft, alle acht Stunden wird die gleiche Kuh gemolken, sonst sei das Karussell nicht rentabel. Etwa 10 Minuten dreht die Kuh im Kreis. Der Landwirt nimmt uns in eine Stube über dem Melkkarussell mit, durch deren Fenster man die Vorgänge im Stall beobachten kann. Wir ziehen die Schuhe aus, der Boden des Aufenthaltsraums ist sauber gewischt, kein Strohhalm liegt hier rum, schicke Vintage-Holzmöbel verleihen dem Zimmer Charme. Am Fenster sehen wir die Kühe im Karussell drehen, heute scheren ausnahmsweise zwei Mitarbeiter die Schwänze der Kühe, ein Handgriff der einmal jährlich durchgeführt wird, hinten im Stall schneiden eigens ausgebildete Mitarbeiter die Fußklauen einer Kuh zurecht. Die meisten Angestellten des Hofes stammen aus Luxemburg, Belgien oder Frankreich, wie eine ehemalige Discounter-Angestellte, für die das Unternehmen ein Exoskelett gekauft hat, damit ihr die Hebebewegungen beim Melken leichter fallen. Der Unternehmer zeigt auf die Durchlüftungsspalten und Ventilatoren. „Hier ist es im Sommer angenehm kühl, hier geht es den Kühen gut, Du willst ja auch nicht im Sommer in der prallen Sonne mit dem Computer auf der Wiese sitzen“, rechtfertigt er die ausschließliche Stallhaltung. Außerdem setze man das neueste Beleuchtungskonzept um. Abends werden die Kühe mit blauem LED-Licht beruhigt, tagsüber schaltet man auf eine Kombi aus Weiss- und Blaulicht, dieses unterdrücke die Melatoninbildung, sodass die Futteraufnahme und Milchproduktion nicht gehemmt werde, wie Tierärzte in Agrarzeitschriften informieren.

Wissenschaft, Technik, politische Entscheidungen, Verstädterung und Kapitaltransfers führen im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Landwirtschaft wie in kaum einem anderen Bereich zu einem grundlegenden Wandel. In Westeuropa ist die Anzahl an Höfen über das letzte Jahrhundert um das zehnfache geschrumpft. Technische Innovationen und der Einsatz von synthetischen Düngermittel ließen den Pro-Kopf-Ertrag pro Hektar in die Höhe schnellen und die Landwirt/innen zu einer Randgruppe schrumpfen – in Luxemburg existieren noch um die 1 700 Betriebe, ein Drittel davon findet keinen Nachfolger. Das Höfesterben war Mitte des 20. Jahrhunderts zwecks Tertiärisierung und Vervielfältigung des Erwerbssektors gewollt. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) trat 1962 in Kraft, und forderte den „technischen Fortschritt sowie die „Rationalisierung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte“. Die Rationalisierungsprozesse färbten sich aber ebenfalls auf die Milchkühe ab: Von 1980 bis 2020 verdoppelte sich der Milchertrag einer Kuh auf 8 200kg im Jahr. Von den insgesamt knapp 200 000 Rindern, die derzeit in Luxemburg leben, ist ein Viertel Milchkühe. Laut Convis-Daten werden Milchkühe in Luxemburg im Durchschnitt etwa fünf Jahre alt, als Grund für die Schlachtung oder den Weiterverkauf geben Bauern Eutergesundheit, Unfruchtbarkeit und Gliedmaßenerkrankungen an. Erfreut über den frühen Abgang seien sie aus ökonomischen, ökologischen und ethischen Gründen jedoch nicht und wünschen sich mehr Beratung. Auf einem durschnittlichen Milchviehbetrieb leben in Luxembrg um die 80 Milchkühe.

Obwohl die 1 200 Milchkühe des Betriebs keinen Weidegang haben, betrachtet sich das Unternehmen sich nicht als rein industriellen Betrieb, denn sein fünfzehn Monate altes, besamtes Jungvieh halte er auf der Weide – „es sind immer Flächen vorhanden, die zu nass sind zum Mähen oder sich in der Hanglage befinden“. Zudem grase ganzjährig eine Angus-Mutterkuhherde auf einer Fläche von 30 Hektar, die nicht gedüngt werde. Warum geht er zwei Haltungsformen gleichzeitig nach? „Es bieten sich immer Flächen für die intensive oder die extensive Haltung an, zumal wenn es eine Prämie für die extensive Haltung gibt, aber das, was ich intensiv gestalten kann, muss ich in der heutigen Welt intensiv machen“, löst er für sich den Widerspruch. Wer nicht investiere, falle zurück, beschreibt der Unternehmer seine wirtschaftliche Philosophie. Mit der neuen Viehbestandsbremse könne sein Betrieb nun nicht weiter expandieren, das mache ihn nervös. Die Kinder studierten agrarwissenschaftliche Studiengänge – wird der Betrieb für die drei weiterhin rentabel sein? Und die Familie frage sich, weshalb im Landwirtschaftsbereich die Unternehmerfreiheit nicht mehr gewährleistet sei; niemand beschränke beispielsweise die Anzahl an Autos, die ein Händler verkaufen darf. Außerdem sei die Landwirtschaft bereits flächengebunden, indem nicht mehr als zwei ausgewachsene Kühe auf einen Hektar berechnet werden, – das reiche als Begrenzung.

Das neue Agrargesetz sieht unter anderem vor, künftig Genehmigungen für Betriebe zu verweigern, die mehr als fünf Arbeitskräfte benötigen (was der Haltung von etwas mehr als 200 ausgewachsenen Rindern entspricht). Mit der Maßnahme will das Landwirtschaftsministerium einer EU-Vorgabe zur Emissions-Reduzierung nachkommen, die im Dezember 2016 verabschiedet wurde. Den besuchten Großbetrieb betrifft diese Deckelung und weil es wenig ähnliche Betriebe in Luxemburg gibt, sind sie politisch isoliert. Die Mobilisierung gegen die Begrenzung fällt mau aus, die Verbände stören sich eher an der Form, gehen aber kaum gegen eine Deckelung an sich vor.

Am 20. November fand in der Ackerbauschule in Gilsdorf eine Veranstaltung der Landjugend a Jongbaueren unter dem Motto Landwirtschaft, Energie an Ëmwelt – Chancen a Géigesätz statt, während der man sich vor allem über das Hin- und Her in der Gesetzgebung verärgert zeigte: Unter LSAP-Minister Schneider seien vor einem Jahr für die Ammoniak-Problematik noch Beihilfen für Landwirt/innen mit niedrigem Rinderbestand vorgesehen worden, jetzt liege der Fokus auf einer Viehbestandsdeckelung. Der Tenor verriet allerdings auch, dass man sich mit der Begrenzung irgendwie arrangieren könne, wenn die Beihilfen stimmen. Die Forderung des Klimabürgerrates, zwei Drittel des Viehbestandes abzuschaffen, um dem Methan-Ausstoß entgegenzuwirken, entsetze jedoch. Marthe Bourg, die Vizepräsidentin der Landjugend, steht am Pult: „66 Prozent Véireduzéirung, fuerdert de Rot, do froe mer eis, wou d’Landwirtschaft soll histeieren“. In der ersten Reihe sitzt neben Fernand Etgen (DP) sowie Kardinal Hollerich Claude Haagen (LSAP) und hört sich die Kritik an seiner Politik an. Jean-Claude Hollerich hielt an dem Abend eine Grußrede: „Do ass Kompetenz, do ass Sachverstand an Engagement“, lobte er die Landjugend. Insbesondere gefalle ihm die Kreuzsymbolik, die im Zentrum der letzten Protestaktion stand. Sie zeige, „dass déi Familien, déi do an de Betriber schaffen, wichteg sinn“, verteidigte er seinerseits pastorale Vorstellungen eines ländlich und ehemals stark katholisch geprägten Luxemburgs.

Obwohl der Großbetrieb sich von der Arbeitsrealität der Kollegen absetzt, stößt er unter diesen auf Bewunderung: „Do ass et propper“, hört man. Er sei gut organisiert, zahle seine Rechnungen, diskutiere gerne mit Kollegen, nehme sich Zeit. Als die Frau des Landwirten zu uns in den Aufenthaltsraum kommt, erwähnt sie ihrerseits, die Ablehnung der Gesellschaft nehme allerdings zu: „Fährt man mit dem Traktor auf der Straße, ziehen die Autofahrer krumme Mienen. Die Medien stellen Bauern dar, als sei uns Tierwohl egal, dabei achten wir sehr genau auf die Gesundheit unserer Tiere“. Und weiter: „Säugetiere werden nun von den Medien auf eine übertriebene Weise vermenschlicht, man muss sich nahezu für seinen Beruf entschuldigen“. Dabei habe sie ihr Leben lang viel gearbeitet. Draußen ist es bereits dunkel, der Landwirt zeigt auf seine Stallkleidung und meint: „So laufen wir oft um 22 Uhr noch rum. Wir haben lange Tage, aber wir mögen unseren Beruf.“ Vor einigen Jahren habe man Möhren und Kohl-Felder angebaut, die Marktmacht der Zwischenhändler sei jedoch zu groß, da bleibe in der Milchproduktion vergleichsweise mehr Umsatz hängen. „Unser Betrieb muss sich lohnen, wir haben Verträge abgeschlossen“, sagt der Landwirt mit resoluter Stimme. Derzeit ist der Milchpreis knapp über 0,20 Cents/Kilo im Vergleich zum Vorjahr gestiegen und liegt bei 0,60 Cents, das decke die Kosten der Dünge- und Energiemittel, die sich verdoppelt, teilweise vervierfacht haben.

Gegen Ende des Besuches gesellt sich ein diplomierter Tierarzt zu uns an den Tisch. Das Fell der Kühe ist sauber, aber wie wissen wir, ob es ihnen gut geht? An der Körperhaltung und an der Milchleistung könne man das erkennen, meint er. „Zwar sind insgesamt viele Kühe im Stall, aber dadurch, dass sie getrennt nach Alter in unterschiedliche Einheiten aufgeteilt sind, entfallen die Rangkämpfe und der damit verbundene Stress“. Und auch wenn der Stall groß scheinen möge, so definiere er ihn nicht als Einrichtung einer Massentierhaltung, er sei in Kanada und den USA gewesen: Feed-Lots seien eine andere Nummer, beschreibt er seinen Referenzrahmen. Während des Besuchs hörte man keine Kuh muhen, vielleicht haben sich Kühe nicht viel zu sagen, wenn die Herdenstruktur wegbricht.

Stéphanie Majerus
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