Kino

Kino der Täuschung

d'Lëtzebuerger Land du 19.06.2020

Wohl kaum ein anderer britischer Regisseur hat die Narrativität des zeitgenössischen Blockbuster-Films eingehender hinterfragt und revolutioniert als Christopher Nolan. Allein sein Name weckt Assoziationen in Richtung einer komplexen, verschachtelten Erzählweise, ohne dabei aber die Grundprinzipien der klassischen Dramaturgie gänzlich auszuhebeln oder noch auf die für den Blockbuster so wichtigen monumentalen Schauwerte zu verzichten. Im Hinblick auf seinen neuen Film Tenet (der am 22. Juli erscheinen soll) zeigt Kinepolis morgen, Samstag 20. Juni, zwei seiner Filme: Interstellar und Dunkirk. Wenn man das Kino dieses fast 50-jährigen Regisseurs mit nur einem Wort zu erschließen versucht, dann ist es: Täuschung. Und vielleicht mögen diese Zeilen dem Kinogänger eine Hilfestellung sein, diesem Christopher Nolan diesmal vielleicht doch einen Gedankenschritt voraus zu sein...

Die Täuschung ist in jedem Film von Christopher Nolan von besonderer Bedeutung, ja sie ist der Dreh- und Angelpunkt seines gesamten filmischen Schaffens. In seinem ersten Spielfilm, Following (1998), wird der Protagonist Bill (Jeremy Theobald) in eine Täuschung verstrickt, die ihn als Mörder einer Frau darstellt. Nolans populärster Film, The Dark Knight (2008), zeigt Batman (Christian Bale), der sich nicht nur unter einer Maske versteckt, sondern auch hinter der Lüge, dass er ein mörderischer Verbrecher ist. Die Figuren in Nolans Filmen werden immer wieder von anderen betrogen und sind oft in ein riesiges Netz der Täuschung verstrickt, das über alle individuellen Lügen hinausgeht. In Interstellar (2014) nimmt das Ausmaß der Lüge Dimensionen an, die für die Zukunft der gesamten Menschheit bestimmend sind. Die inhaltliche Konstante der Täuschung findet bei Nolan ihre Entsprechung in der Form. Der typische Nolan-Film hat die formale Struktur einer Irreführung, die darauf abzielt, den Zuschauer über die Ereignisse, die sich ereignen und über die Motivationen der Figuren zu täuschen. Prestige erzählt von zwei konkurrierenden Magiern im viktorianischen England – der gesamte Film ist als Zaubertrick angelegt und zielt in seiner narrativen Präsentation in besonderer Weise auf Täuschung und Überraschung.

Nolans Lügenstruktur besteht nicht, wie man erwarten könnte, darin, Ereignisse zu zeigen, die nicht wirklich innerhalb der filmischen Welt so geschehen – das würde sein Publikum verjagen, weil das von Samuel Taylor Coleridge formulierte Postulat der „willing suspension of disbelief“ dann nicht mehr greifen würde. Nolans Filme zeigen also Ereignisse, die sich tatsächlich im filmischen Universum so abspielen, da ist Inception vielleicht das beste Beispiel – aber die formale Struktur führt den Zuschauer dazu, diese Ereignisse falsch zu interpretieren. Die narrative Struktur der Filme täuscht den Betrachter über die Bedeutung der gesehenen Ereignisse. Die Täuschung besteht mehr in der Form als im Inhalt.

Dieser Zugang zeigt sich bereits in den Eröffnungen von Nolans Filmen. Wir sehen oft ein Ereignis, ziehen aber falsche Schlüsse über seine Natur. Anstatt die Zuschauer direkt zu manipulieren, wie etwa in The usual suspects (Bryan Singer, 1995), neigen Nolans Filme dazu, den Zuschauer dazu zu bewegen, sich selbst zu täuschen, indem sie sich an vorgeprägte filmische Standardsituationen halten. Die Eröffnung von Insomnia (2002) beinhaltet Aufnahmen von Blut, das auf einem weißen Kleidungsstück zu sehen ist. Sie tauchen während der gesamten Eröffnungssequenz des Films auf, und das anschließende Bild einer polizeilichen Untersuchung lässt den Zuschauer glauben, dass es sich dabei um das Blut des Mordopfers handelt. Doch am Ende des Films wird deutlich, dass diese Blutflecken überhaupt nichts mit der eigentlichen Mordermittlung zu tun haben. Stattdessen sind sie Ausdruck des Vergehens eines Polizeibeamten, Will Dormer (Al Pacino), der falsche Beweise platziert hat, um einen Verdächtigen in einer früheren Untersuchung zu überführen.

In gewisser Weise beginnt das Thriller-Genre sich mit Nolan Anfang der 2000er selbst zu hinterfragen und zu beschatten. Die Struktur des Films erzeugt eine Täuschung, bei der wir die Anfangsbilder falsch interpretieren und diese anfängliche Fehlinterpretation führen zu einer Reihe von falschen Schlüssen, die erst dann enden, wenn die dramaturgische Conclusio dem Zuschauer ermöglicht, sie als solche zu erkennen. Ferner zeigt die Eröffnung von Memento (2000) – ein kühner Essay, der seine Geschichte rückwärts erzählt – wie Leonard Shelby (Guy Pearce) Teddy (Joe Pantoliano) für den Mord an seiner Frau erschießt, nur um dann allmählich aufzudecken, dass Leonard ein ganz unzuverlässiger Erzähler ist, der unter Amnesie leidet. In Dunkirk erzählt Nolan nicht rückwärts, sondern auf drei verschiedenen Zeitebenen von unterschiedlicher Dauer, die um das Ereignis der Evakuation von Dünkirchen während des Zweiten Weltkriegs kreisen. Auch hier wird der Zuschauer getäuscht und durch die alternierende Montage bis zur Orientierungslosigkeit getrieben, dies aber mit dem konzeptuellen Anspruch, ein Kriegserlebnis möglichst unmittelbar und im Moment zu schildern.

Der Zuschauer steigt also in einen Nolan-Film mit falschen Vorstellungen. Im Verlauf der Filme bewegt sich der Zuschauer dann von seinem „falschen Wissen“ zu einem nachgereichten Wissensstand, der die Fehler „korrigiert“. Nolans Kino wird deshalb in der Filmgeschichtsschreibung auch verstanden als eine Weiterentwicklung der Postmoderne, die sich in den Neunzigern noch dem Selbstzitat und der Ironie verschrieb, hin zu einem noch komplexeren Erzählverfahren des Films, das da gerne als puzzle- oder mind-game-movie bezeichnet wird. Es bleibt abzuwarten, auf welche Weise uns Nolan mit seinem Tenet diesmal hinters Licht führen will, aber was ist das Kino denn anderes als ein Lichtspiel der Illusionen?

McGowan, Todd (2012): The fictional Christopher Nolan; University of Texas Press. / Elsaesser, Thomas (2009): Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino; Bertz u. Fischer. / Krützen, Michaela (2015): Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte; Fischer.

Marc Trappendreher
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