Die kleine Zeitzeugin

Mein Freund, der Baum

d'Lëtzebuerger Land vom 16.02.2018

Der Baum vor dem Fenster, der Baum neben der Bushaltestelle, der Baum neben der kleinen Kapelle, der Baum auf der langweiligen Straße, der Baum, der irgendwo herumsteht. Der in der Allee oder in der Prachtstraße, der nicht aus der Reihe tanzt, komme was oder wer will, Panzer oder Pärchen. Der Baum, den wir vielleicht dann erst sehen, wenn er nicht mehr da ist, stumpf stehen wir vor einem Stumpf, ein Loch klafft in der Erde und im Himmel auch.

Was für ein tolles Wesen so ein Baum ist, lernen wir im Kindergarten, dass wir ihn zum Atmen brauchen, dass er uns Irdisches und Paradiesisches in den Schoß wirft aus seinem Schoß, der auch Krone heißt, die deutsche Sprache versieht ihn mit mächtigen Worten, was sich nicht alles um Stamm und Stammbaum rankt. Er hat Jahresringe wie wir, ein Symbol ist er auch noch, für das Leben, für uns. Aus dem Gerippe drängt es grün ins Grau der Welt, dann steht er da, ganz in Pink, ganz in Weiß, wir können es immer nie fassen, selbst die mit Routine nicht. Im Herbst schüttelt er den Kopf, schmeißt uns Gold vor die Füße, manchen fällt dazu Humus ein. Er haut nicht ab, er ist immer da, ein Freund. Wir können uns zu ihm und unter ihn flüchten, manche umarmen ihn, ganze Umarmungstrupps ziehen los, er läuft nicht weg.

Und wenn gar nichts mehr geht und alle Stricke reißen, kann Menschenkind seinen Strick hier knüpfen, das hält er schon aus. Er ist unser archai-
scher Verbündeter.

Hat sich der Nachhaltigkeitsminister den Aufschrei erwartet nach der Ankündigung des Kahlschlags in der Neuen Avenue? Hat er gedacht, die Luxemburger_innen, das sind doch die, die Schrottgott Auto Bäume und Menschen opfern, die in den sozialen Medien randalieren, weil wieder so ein Gewächs so unflexibel im Weg steht, weg damit? Hauptsache, das Auto und der Euro rollen.

Hat er sich gedacht, dass die Kirschbäume und Platanen auf der Neuen Avenue so viele Fans und Schutzengel haben könnten? Dass diese klassisch à la francaise verstümmelten Bäume mit den gichtigen, himmelwärts gereckten Aststummeln, wie sie seit Menschengedenken da stehen, gebannt in einem knotigen, verzückten Tanz, dass diese fleckigen, scheckigen Platanen so viele Likes bekommen? Dass so viel Nostalgie hochkommt?

In einem Land, in einer Stadt, in der es vielen Menschen, die schon länger da sind, einfach zu schnell geht, und die es unheimlich finden, wenn selbst die Langsamkeit der Bäume nicht mehr geachtet wird. Zu viele von ihnen sind schon verschwunden, beinah unerträglich ist die sowieso schon friedhofsschwermütige Leere des Glacis ohne Bäume, jetzt kehren sie wieder, hoffentlich Lebenszeichen.

Vielleicht fällt es vielen Menschen auch jetzt erst auf, jetzt, da es dem Baumbestand der zweitschönsten Prachtstraße der Welt, welche Jury auch immer diesen erstaunlichen Befund ablieferte, an den Kragen geht. Nicht wirklich, wie nach dem ersten Todesurteil besänftigt wird, nicht wirklich tot, nur halbtot, zwischengelagert, ex- und wieder implantiert, oder sonst irgendwie was mit Grün.

Hat sich der Nachhaltigkeitsminister gedacht, dass gleich eine Online-Petition gestartet wird, in der in oft erstaunlich holprigem Deutsch Liebeserklärungen an Beume abgegeben werden? Sie gehören dazu wie die Einwohner, schreibt jemand, jemand nennt sie Seele der Straße. Die Erhaltung des „Patrimoine“, ein adäquates deutsches Wort bietet sich nicht an, und die Verhinderung der Zerstörung des Stadtbildes sind zentrale Anliegen. Für einen Unterzeichner sind die Bäume der Charme der Avenue. Manche erinnern sich, wie sie als Kinder unter diesen Bäumen spielten. Pragmatiker wollen die Sauerstofflieferanten nicht missen. Die, die sich mit Kabeln und Wurzeln auskennen, steuern alle möglichen Wurzelbehandlungstipps bei, fachmännische Kostenvoranschläge gleich inklusive. Dass die Bäume nach ein paar Jahren Baumschule in Waldhof dann wieder brav Wurzeln schlagen in der angestammten Avenue, das glaubt kaum jemand.

Natürlich wird massiv gegen Grün und Tram gegiftet. Aber es ist Betroffenheit zu spüren, und Sorge. Und Liebe. Zu der Stadt, zu den Bäumen. Zu den Bäumen in der Stadt. Und das ist schön und tröstlich. Tröstlich wie Bäume.

Michèle Thoma
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