Leitartikel

Die Mär vom Verzicht

d'Lëtzebuerger Land vom 26.06.2020

Erinnern Sie sich noch? Vor einiger Zeit warf eine engagierte schwedische Schülerin Politikern und Wirtschaftseliten vor, den Ernst der Lage zu verkennen: Die Klimakrise bedrohe die gesamte Menschheit, wir sollten alle in Panik geraten. Hunderttausende Jugendliche folgten ihrem Appell, bevölkerten die Straßen und forderten eine radikale Reduktion der Treibhausgase. Damit keine Missverständnisse entstehen: Die globale Erwärmung ist nach allem, was wir wissen, tatsächlich eine ernstzunehmende Gefahr für das Überleben der Spezies Homo Sapiens.

Aber das alles scheint gerade sehr weit weg. Die Pandemie hat die Politik fest im Griff, die Coronakrise überlagert die Klimakrise. Menschenleben, Konjunktur und irgendwann später das Klima – so verteilen sich aktuell die Prioritäten der Politik. Dabei kann absurderweise gerade das beobachtet werden, was sich, zugespitzt formuliert, als Feldversuch der Vorstellungen mancher Klimaaktivisten bezeichnen lässt. Notgedrungen haben die Regierungen den Menschen das auferlegt, was Aktivisten seit Jahren fordern: den radikalen Verzicht auf Konsum. Keine Städtetrips mehr nach Berlin oder Barcelona, keine Shoppingtouren und auch keine Päischt-Croisière. Ergebnis: Klimawissenschaftler prognostizieren für dieses Jahr den stärksten Rückgang der CO2-Emissionen, den es auf der Welt je gegeben hat. Länder im Lockdown verbrauchen rund 25 Prozent weniger Energie. Die Welt spart 2020 rund 2,6 Milliarden Tonnen CO2 ein, der Großteil der Staaten wird für dieses Jahr die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreichen – auch Luxemburg. Ein gutes Jahr für das Klima also.

Doch das Ganze hat einen Preis. Die Wirtschaft schrumpft: In der Europäischen Union bricht das Bruttoinlandsprodukt um rund acht Prozent ein, in Luxemburg laut Statec um mindestens sechs Prozent. Die kurze Abkehr von der wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik setzt die Staatsfinanzen bereits massiv unter Druck, führt zu Insolvenzen, zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit und zu Existenzängsten bei Selbständigen. Die Corona-Rezession offenbart, dass die Postwachstumsökonomie keine nachhaltige Lösung ist, Wachstumsverzicht keine Rettung prophezeit.

Deshalb freut sich derzeit niemand ernsthaft über das unerwartete Erreichen der Klimaziele. Im Gegenteil: Politiker und Wirtschaftsführer setzen alles daran, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Konjunkturpakete werden geschnürt, Steuererhöhungen (auf Treibstoffe) ausgesetzt und ja, der Staat wird, mit Keynes gesprochen, notfalls Löcher graben und wieder zuschütten lassen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Und Konsum wird neuerdings zur ersten Bürgerpflicht, zu einem Akt gesellschaftlicher Solidarität. Gutscheine werden verteilt, die nationalen Unternehmen heroisch inszeniert. Kurz: Wer kauft, hilft.

Der Verzicht ist also keine Lösung, die sich realistisch im Kampf gegen die Klimakrise anbietet. Aber dadurch lassen sich natürlich die Gefahren durch die Kippelemente, die bei einer Erwärmung von über zwei Grad im Verhältnis zur vorindustriellen Zeit drohen, nicht einfach ausblenden. Ein Weiter-so und eine Rückkehr zum Status quo ante wird das Risiko nur verlagern. Was bleibt also? Nur die Flucht nach vorne. Die Politik sollte den Prozess der Dekarbonisierung dadurch befördern, indem sie stärker auf Innovation und Forschung setzt. Sie sollte Staatsinterventionen an Klimaauflagen koppeln und mit Krisenpaketen die Umstellung der Wirtschaft auf erneuerbare Energien unterstützen. Warum nicht Klimaschecks verschicken, um klimaschonende Kühlschränke zu kaufen, warum nicht das Netz von E-Tankstellen massiv ausbauen, wie es eigentlich angedacht war? Und warum nicht eine europaweite Kohlenstoffsteuer einführen, die Öl für Unternehmer und Verbraucher unattraktiv macht?

Pol Schock
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