Claude Schummer, Generalsekretär des Ärzteverbands AMMD, im Land-Gespräch

„Man darf nicht zu ideologisch sein“

d'Lëtzebuerger Land du 09.01.2015

2012 begannen der Ärzteverband AMMD und die Gesundheitskasse CNS etwas, was sie seit 20 Jahren nicht mehr unternommen hatten: neue Konventionen für die Ärzte und Zahnärzte auszuhandeln. In Luxemburg wird jeder Arzt, sobald er seine Approbation erwirbt, automatisch und obligatorisch Kassenarzt. Das garantiert ihm einerseits, seine Leistungen mit der Kasse abrechnen zu können, andererseits kann er nur in Rechnung stellen, was die Gebührenordnung, die Nomenclature des actes médicales, an Tarifen hergibt. Mit diesem engen Rahmen ist das Luxemburger System in der EU ziemlich einzigartig. Da sind Verhandlungen um neue Konventionen immer auch Deals, ein wenig Privatmedizin zuzulassen, ohne dass man das so nennen muss. Kurz vor Weihnachten gingen die Gespräche zwischen Kasse und Ärzteverband ergebnislos zu Ende. Sogar ein dreimonatiger Schlichtungsversuch hatte nichts gebracht.

d’Land: Herr Schummer, vor 15 Jahren hatte die AMMD monatelang dafür gestritten, die automatische und obligatorische Konventionierung der Ärzte mit der Krankenkasse abzuschaffen. Sie forderte, ein Arzt sollte entweder freiwillig Kassenarzt werden oder nur für einen Teil seiner Arbeitszeit. Jetzt, da die Verhandlungen mit der CNS gescheitert sind, sagen Sie, man könne ruhig noch weiterverhandeln. Wieso hängt Ihr Verband plötzlich so sehr an den ungeliebten Konventionen?

Claude Schummer: Bei uns wurde das conventionnement généralisé in den Sechzigerjahren eingeführt, ziemlich zeitgleich mit Frankreich und Belgien. In beiden Ländern aber wurde die Konventionierung erstens freiwillig. Zweitens übernimmt die Krankenkasse die Behandlungskosten zu ihren Tarifen auch bei einem nicht-konventionierten Arzt, lässt dem Patienten also die freie Arztwahl. Drittens erhält, wer sich konventionieren lässt, in Belgien wie in Frankreich eine Gegenleistung: Die Ärzte arbeiten „sozial“, dafür trägt die Krankenkasse ihren Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungsbeiträge. Viertens haben die konventionierten Ärzte eine Reihe Freiheiten. Dazu gehört, dass sie Erste-Klasse-Zuschläge in Spitälern berechnen dürfen. Und schließlich entscheiden in Belgien, Frankreich, aber auch in Deutschland die Ärzte stark darüber mit, was die Kassen anbieten und inwiefern sie modernes medizinisches Knowhow in ihre Leistungskataloge übernehmen. Hierzulande wurde all das von unseren Vorgängern einzufordern versäumt ...

... und trotzdem sagen Sie, wie im RTL-Radiointerview am 18. Dezember, man könne weiterverhandeln, obwohl sogar die Schlichtung gescheitert ist.

Zum Verlauf der Mediation gebe ich keine Erklärungen ab. Das wurde mit dem Schlichter so vereinbart. Weiterverhandeln kann man über Themen, die die CNS geklärt haben möchte: zum Beispiel den Datenfluss in die neue elektronische Patientenakte. Aber wenn wir nach Gegenleistungen für uns fragen, weil wir zwangskonventioniert sind, stoßen wir mit der CNS, ob mit oder ohne Schlichter, schnell an Grenzen. Das sind politische Fragen, und deshalb ist jetzt die Politik gefordert.

Der Sozialminister hat vergangene Woche erklärt, er sehe ebenfalls noch Verhandlungsspielraum zwischen AMMD und CNS.

Es war aber die Politik, die 2010 mit der Gesundheitsreform die Honorare der Ärzte kürzte. Und die sie jetzt über den „Staatshaushalt der neuen Generation“ eingefroren hat. Dabei ist das nicht gerechtfertigt: Laut Gesetz sind der Regierung solche Eingriffe nur erlaubt, wenn die Krankenkasse defizitär ist und sich dem nicht anders abhelfen lässt. Die Kasse ist aber nicht defizitär. Da sagen wir: Das aktuelle System ist an seinen Grenzen angelangt und man muss die Spielregeln politisch neu festlegen.

So niedrig scheinen die Einkommen der Ärzte aber nicht zu sein. Dieser Tage hat die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) ihren Jahresbericht veröffentlicht. Demnach gibt es zum ersten Mal seit 2006 in Luxemburg wieder mehr Allgemeinmediziner als Zahnärzte. Ein Generalist aber verdiente mit den von der IGSS geschätzten 153 342 Euro brutto im Jahr 2013 nach Abzug von Praxiskosten nicht mal halb so viel wie ein Spezialist im Schnitt mit 320 736 Euro. Doch wie es scheint, ist auch der Allgemeinmedizinerberuf vom Einkommen her attraktiv.

Solche Zahlenspielereien sind zweischneidig. Wir zählen in Luxemburg rund drei Ärzte pro tausend Einwohner, nicht viele Staaten in Europa haben noch weniger. Es fehlt bei uns nicht nur an Generalisten, sondern auch an Spezialisten. Der Altersdurchschnitt sämtlicher Mediziner liegt bei 55 Jahren, wir haben ein echtes Nachwuchsproblem. Aber rekrutieren Sie mal einen Onkologen oder einen Neonathologen! Die findet man nicht mehr.

Weil die Einkommen zu niedrig sind?

Wir haben nicht die teuersten Ärzte! Man darf nicht vergleichen, was ein angestellter Arzt in Deutschland verdient, der kein Oberarzt oder Chefarzt ist, und wie viel ein erfahrener Mediziner bei uns verdient. Besser ist es, in den Gebührenordnungen nachzuschauen, was ein Behandlungsakt bei uns einbringt, was in der Schweiz, in Frankreich und so weiter. Wir haben das getan: Mal ist es bei uns mehr, mal weniger, aber würde man eine ausländische Gebührenordnung übernehmen, wie sie ist, dann könnten wir hier mehr verdienen. Das ist schon durchgerechnet worden. Hinzu kommt: Im Ausland haben die Ärzte viel größere Freiheiten, Zusatzleistungen in Rechnung zu stellen. Das ist ein wichtiger Punkt. Luxemburg ist angewiesen auf die Zuwanderung von Ärzten aus dem Ausland. Wir bilden unsere Mediziner ja nicht selber aus. Wollen wir weiterhin junge, kompetente und dynamische Ärzte anziehen, dann müssen wir Arbeits- und Einkommensbedingungen bieten, die gegenüber dem Ausland konkurrenzfähig sind.

Entspräche eine reformierte Gebührenordnung den „neuen Spielregeln“? Die Regierung hat sich eine solche Reform ja vorgenommen, eigentlich sollte sie Ende 2014 sogar schon fertig sein.

Das ist für uns eine von mehreren Stellschrauben. Die Regierung meint, mit dieser Reform wäre alles gelöst. Sie würde aber Geld kosten, das sage ich ganz deutlich. Die aktuelle Gebührenordnung hat nicht nur große Lücken, sie enthält auch keine Tarife für Spitzenmedizin. Will man den Fortschritt finanzieren, und obendrein kompetitiv sein, dann muss man Geld reinstecken.

Die aktuelle Gebührenordnung enthält aber auch Ungerechtigkeiten in der Vergütung zwischen den Fachdisziplinen ...

... und uns ist klar, dass eine Reform auch zwischen den Disziplinen umverteilt. Das würde aber nicht reichen. Moderne Medizin kriegt man nicht hin mit einem Finanzierungsvolumen von vor 20 Jahren.

Und darum ging es mit der CNS?

Nein. Das betrifft streng genommen nicht die Konvention. Wir haben aber gefragt: Wer bezahlt uns die moderne Medizin statt die von vor 20 Jahren?

In der jüngsten Ausgabe ihrer Verbandszeitschrift schrieb die AMMD, vor acht Jahren habe ihr der Präsident der damaligen Krankenkassenunion UCM Zusagen zu den convenances personnelles gemacht. Welche waren das?

Die UCM hatte 2006 festgestellt, dass manche Ärzte einen CP1, den man für die Abmachung eines Konsultationstermins berechnen kann, mit 50, mitunter gar mit 100 Euro ansetzten. Ich fand heraus, dass das Leistungen betraf, die die Kasse nicht erstattet, Akupunktur etwa. Der UCM-Präsident war mit mir der Meinung, dass darüber Transparenz herrschen sollte. Es sollte ein neuer Code eingeführt werden, ähnlich dem CP8, mit dem ein Zahnarzt Zusatzleistungen berechnet. Und es sollte im Klartext auf die Rechnung geschrieben werden, um welche Leistung es sich handelte, Kassen- und Zusatzleistungen sollten also nachvollziehbar auf dieselbe Rechnung kommen. Die Änderung wurde aber vom UCM-Vorstand nie bestätigt. Und der nächste Kassen-Präsident fand, wir sollten für Zusatzleistungen „Bierdeckelrechnungen“ ausstellen. Ich bin gegen so etwas.

In Deutschland gibt es einen Igel-Katalog für „Individuelle Gesundheitsleistungen“. Für die kalkuliert ein Arzt die Preise frei. Wollen Sie so etwas?

Darum geht es mir nicht. Igel sollte man auf einer Rechnung auch aufführen, Igel sind in Deutschland aber umstritten; vielfach wird gesagt, sie seien wissenschaftlich nicht fundiert. Mir geht es um Leistungen, die fundiert sind, medizinisch angezeigt sein können, die die Kasse aber nicht bezahlt. Herrscht darüber Transparenz, könnte eine Zusatzversicherung sie vielleicht eines Tages übernehmen. 52 Prozent der Bevölkerung haben heute schon eine Zusatzversicherung. Und ich weise darauf hin, dass selbst 100 Euro für einen CP1 damals von keinem Patienten beanstandet wurden.

Aber wieso sollte, was medizinisch angezeigt ist, eine Zusatzleistung sein, die privat abgerechnet wird? Laut Krankenkassengesetz hat jeder Patient ein Recht auf eine Behandlung nach den „acquis de la science“.

Dem wird die CNS aber nicht gerecht, tut mir leid, wenn ich das sagen muss. Selbst mit einer reformierten Gebührenordnung würde die Schere zwar kleiner, aber der Arzt könnte immer etwas anbieten, das medizinisch angezeigt wäre, aber keine Kassenleistung ist. Vielleicht noch nicht, vielleicht nie. Hinzu kommt, und das ist ein wichtiger Punkt: Wer schaut denn nach, was Stand der Wissenschaft ist? Wer kontrolliert, ob die Kasse ihre Mittel adäquat einsetzt? Niemand! Ein Gremium dafür gibt es nicht. Entscheidungen trifft der Vorstand der CNS, doch dort sitzen Delegierte der Gewerkschaften und der Patronatsverbände und der Vorstandspräsident als Staatsvertreter. Die medizinische Expertise fehlt. Die CNS lässt sich vom Medizinischen Kontrolldienst der Sozialversicherung beraten, aber der kontrolliert später, ob tatsächlich eingehalten wird, was aufgrund seiner Ratschläge entschieden wurde. Für mich ist das Willkür. Was man braucht, ist ein unabhängiges Expertengremium, das die Kasse auch mal drückt, auf medizintechnische Folgenabschätzung geprüfte Innovationen zu übernehmen. Darin wären wir gern vertreten. Ich hatte ja schon gesagt, dass in den Sechzigerjahren versäumt wurde, darauf zu bestehen.

Die AMMD in diesem Gremium wäre aber nicht ohne Eigeninteressen, oder?

Wir möchten an Diskussionen beteiligt werden, aber so ein Gremium nicht dominieren und niemanden über den Tisch ziehen. Im Ausland funktioniert es, wie gesagt, schon lange so. Das ist für uns eine weitere wichtige politische Frage, neben der Reform der Gebührenordnung und ihrer Finanzierung.

Die Regierung hat, wie schon ihre Vorgängerin, im Koalitionsvertrag festgehalten, den Zuschlag für Erste-Klasse-Behandlungen in Spitälern abzuschaffen, aber nach Diskussion mit den Ärzten ...

... genau, nach Diskussion mit uns! Wenn die Politik in diesem Punkt eine Änderung will, dann soll sie mit uns reden.

Hat sie versucht, das der CNS zu überlassen?

Wo wäre denn das Mandat dafür gewesen? Ohne Details aus der Mediation preiszugeben: Ich erlaube nicht, in Verhandlungen um eine neue Konvention mit der CNS über etwas zu diskutieren, was sie nicht bezahlt. Die 66 Prozent trägt sie ja nicht, die zahlt der Patient aus seiner Tasche oder eine Zusatzversicherung übernimmt das.

Aber warum sollte eine Behandlung 66 Prozent mehr kosten, nur weil man in einem Einbettzimmer liegt?

Das ist eine ganz falsche Diskussion! Der Landarzt auf dem Dorf behandelte früher viele Leute gratis, wenn sie nicht genug Mittel hatten. Der reiche Bauer, den er ebenfalls behandelte, finanzierte die kleinen Leute mit. Der Erste-Klasse-Zuschlag ist Teil dieses Prinzips, er ist eine selektive Beteiligung. Funktioniert der Ausgleich über die Dorfgemeinschaft nicht mehr, ist der Arzt weg.

Im Gesundheitswesen von heute spielt der Landarzt aber keine so große Rolle mehr und die Krankenversicherung garantiert die gleichen Leistungen für alle.

Und die Behandlung ist dieselbe, ob der Patient nun im Einzel- oder im Mehrbettzimmer liegt. Aber am Herzchirurgiezentrum INCCI zum Beispiel beziehen die Chirurgen 40 Prozent ihrer Einkünfte aus dem Erste-Klasse-Zuschlag. Zwei Drittel der Zimmer dort sind Einbettzimmer. Keiner dieser Chirurgen kommt aus Luxemburg, die wurden alle im Ausland angeworben. Fällt der Zuschlag weg, gehen sie woanders hin. So einfach ist das. Deshalb kann mein soziales Gewissen mit den 66 Prozent leben. Hinge die Behandlung davon ab, ob man neben der CNS noch zusatzversichert ist, dann wären wir da, wo niemand hinwill: bei der Zwei-Klassen-Medizin.

Sie haben vorhin gesagt, selbst mit einer reformierten Gebührenordnung, die obendrein finanziell besser ausgestattet wäre, könnte der Arzt noch etwas anbieten, das medizinisch angezeigt, aber keine Kassenleistung ist. Das wäre doch Zwei-Klassen-Medizin, und politisch ginge es immer um die Einkünfte der Ärzte.

Sogar im Krankenhaus werden heute Behandlungen vorgenommen, die keine Kassenleistung sind. Das macht der Arzt dann gratis, aber nicht endlos lange. Wie lange, hängt davon ab, welche Freiheiten er hat, noch aus anderen Einkommensquellen zu schöpfen. Letztlich kommt das allen zugute. Im Koalitionsprogramm der Regierung steht ein interessanter Satz: „Il s’agit plus que jamais de trouver le juste équilibre entre la garantie d’un accès universel à des services de santé de qualité, le progrès médical et le respect des contraintes budgétaires.“ Wir hätten also gerne das Beste und Schönste, können es uns aber gar nicht leisten. Wir garantieren den allgemeinen Zugang zu hochwertiger Versorgung, aber nicht, dass die Versorgung immer gratis ist. Wo sie es nicht sein soll, ist eine politische Frage. Wir sehen das so: Wenn wir „dans le respect des contraintes budgétaires“ bleiben wollen, aber gleichzeitig attraktiv genug, um gute Ärzte anzuziehen, dann liegt darin ein Widerspruch. Wenn man ihn auflösen will, darf man nicht zu ideologisch, da muss man pragmatisch sein.

Peter Feist
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