Steuerreform

Reformziel gesucht

d'Lëtzebuerger Land vom 31.08.2000

Zum zweiten Mal will Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker heute in der Mittagsstunde den vorgezogenen ersten Teil seiner Steuerreform erklären. Bekanntlich soll ab 1. Januar der Einkommenssteuersatz um vier Prozent gesenkt werden. Durch eine fast 50-prozentige Erhöhung der ersten steuerfreien Einkommensstufe soll der Eingangssatz auf 14 Prozent herauf gesetzt werden, obwohl in der Regierungserklärung vom 12. August letzten Jahres versprochen wurde: "Den Agankssteiersaz bleiwt mat 6 Prozent deen niddregsten an Europa." Der Spitzensatz soll auf 42 Prozent gesenkt und die Progression streng linear werden (d'Land vom 04.08.00 und 11.08.00).

Alle darüber hinaus gehende Reformen sollen, wie ursprünglich geplant, erst 2002 in Kraft treten. Doch wie weit der Reformwille der Koalition gehen wird, ist schwer abzuschätzen. Bei der Gewerbesteuer geht seit Ende letzten Jahres nur noch unverbindlich die Rede von einer "möglichen" Abschaffung, zum Thema Ökosteuer verspricht die Regierungserklärung lediglich eine Studie.

Dass auch bei der Einkommenssteuer der Umfang der angekündigten Reformen nicht richtig abzusehen ist, hängt sicher damit zusammen, dass das Reformziel unklar bleibt. Geht es nur um die Teilnahme am europäischen Steuerwettbewerb und die Verhinderung weiterer Budgetmehreinnahmen oder soll das Steuerwesen neutral gegenüber unterschiedlichen Lebensformen und den verschiedenen Einkommensarten werden? In welche Richtung soll es sozial umverteilen?

Aus den bisherigen Ankündigen der Regierung zur Einkommenssteuerreform geht jedenfalls hervor, dass - neben den nun vorgenommenen Änderungen an der Struktur des Grundtarifs - vor allem an eine Überprüfung der Abzüge und Freibeträge gedacht wird, die auf ihren wirtschaftlichen und sozialen Sinn hin untersucht werden sollen. Die Erfahrung lehrt aber, dass gute Vorsätze, dieses historisch gewachsene Dickicht zu lichten, selten weit führen, weil zu viele Gruppeninteressen berührt werden. Und am Ende solcher Überprüfungen können sogar wunderbarerweise zusätzliche Vergünstigungen eingeführt worden sein. Tatsächlich sind schon die Schaffung neuer oder die Erhöhung bestehender Freibeträge zur Förderung der Kapitalbildung vorgesehen, die DP versprach in ihrem Wahlprogramm, Studienkosten teilweise und die Löhne von Dienstpersonal völlig absetzbar zu machen.

Doch wenn es ihr an Ideen zu tiefer greifenden Veränderungen mangelt, könnte die Regierung sich vielleicht bei den belgischen Nachbarn inspirieren. Denn heute beginnt das Kabinett in Brüssel die Diskussionen über einen von PRL-Finanzminister Didier Reynders vorgelegten Reformentwurf. Neben der Beteiligung am europäischen Steuerwettbewerb und der Senkung des Spitzensteuersatzes sehen die Vorschläge des liberalen Ministers nämlich einige bemerkenswerte Neuerungen vor.

So soll die Regenbogenkoalition die Hälfte des geplanten Steuerausfalls auf die in ihrer Regierungserklärung versprochene familienpolitische Neutralisierung des belgischen Steuersystems verwenden. Die Einkommenssteuersätze für Ehepaare und Alleinstehende und die Besteuerung ihrer Renten, Arbeitslosenunterstützung und Vermögenseinkünfte sollen gleichgestellt werden. Schließlich sollen Paare, welche eingetragene Partnerschaften (Pacs) eingehen, wie Ehepaare besteuert werden. Dadurch werden steuerliche Benachteiligungen einerseits von Ehepaaren und andererseits von anderen Formen des Zusammenlebens teilweise, wenn auch nicht mit der nötigen Konsequenz, beseitigt.

Hierzulande wurden, wie jetzt in Belgien, durch die 1991 in Kraft getretene Reform und die hart umkämpfte Änderung der Steuerklassen jene Maßnahmen abgeschafft, welche Ehepaare benachteiligten. In der Begründung des Gesetzes vom 6. Dezember 1990 hatten CSV und LSAP dies aber als erste Etappe beschrieben, der als zweite die Einführung der Individualbesteuerung von Ehepaaren folgen soll.

Doch seither sind zehn Jahre verstrichen, ohne dass diese zweite Etappe eingeleitet worden wäre. Dabei versprachen fast sämtliche Parteien irgendwann einmal zumindest die fakultative Abkehr von der Zusammenveranlagung mit Splitting, einem Relikt aus der Zeit der besonders von der CSV hoch gehaltenen bürgerlich-katholischen Hausfrauenehe.

Doch von einer Steuerpolitik, welche davon ausgeht, dass alle Erwerbsfähigen für den eigenen Unterhalt sorgen können und eigene Steuern (und Sozialversicherung) zahlen, ist im Koalitionsabkommen von CSV und DP, trotz der auch vom Wirtschafts- und Sozialrat unterstützten Ankündigung von 1990, nichts mehr zu merken. Auch die inzwischen von der CSV jäh gestoppte schrittweise Ersetzung von Kinderermäßigungen durch Kindergelderhöhungen zeigt eine Rückkehr zu einer konservativeren Familienpolitik.

"Die einzige wirkliche Neuerung" nennt der belgische Finanzminister die Einführung eines rückerstattbaren Steuerkredits von 25 000 Franken jährlich für versteuerbare Jahreseinkommen zwischen 150 000 und 500 000 Franken und, stufenweise abnehmend, bis 650 000 Franken. Die Bezieher dieser Niedrigeinkommen bekommen bis zu 25 000 Franken erlassen. Wenn sie weniger oder keine Steuern zahlen, bekommen sie den Unterschied als Einkommenszusatz ausgezahlt.

Damit tut die belgische Regierung einen Schritt in Richtung Negativsteuer. Eine Negativsteuer soll unter anderem der Tatsache Rechnung tragen, dass Bezieher niedriger Einkommen den geringsten Nutzen von Steuersenkungen haben, weil sie am wenigsten oder keine Steuern zahlen. Allerdings birgt das Prinzip auch Gefahren in sich, weil es eine Art staatliche Bezuschussung von Branchen mit Niedrigstlöhnen darstellt und damit dem Prinzip widerspricht, dass jede Arbeit angemessen entlohnt gehört und ihren Mann oder ihre Frau würdig ernähren soll.

"Wir wollen eine Steuer- und Transferordnung aus einem Guss anstreben, die sich am Konzept des sogenannten 'Bürgergeldsystems' oder der 'Negativsteuer' orientiert", hieß es 1994 im Wahlprogramm der DP; bei den Wahlen 1999 hatten die Liberalen aber sicherheitshalber auf solche steuer- und sozialpolitischen Experimente verzichtet. Die LSAP hatte ebenfalls wiederholt eine Negativsteuer ins Gespräch gebracht, doch stattdessen reichte  sie vergangene Woche lieber einen Gesetzesvorschlag ein, um, wie von Gesetz und Koalitionsabkommen vorgesehen, den Mindestlohn und das Kindergeld jener zu erhöhen, die bei Steuersenkungen leer ausgehen.

 

 

 

Romain Hilgert
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