Der Notstandsartikel in der Verfassung soll geändert werden

Ordnungsgesetz

d'Lëtzebuerger Land du 12.02.2016

Am späten Dienstagabend verabschiedete die französische Nationalversammlung eine Verfassungsrevision, die dem Notstand Verfassungsrang gibt, der Möglichkeit, in einer Krisensituation die Gewaltentrennung außer Kraft zu setzen und der Regierung zu erlauben, gesetzliche Bestimmungen zu übergehen. Dem Votum waren zwei Monate lang intensive öffentliche Debatten vorangegangen und tiefe Meinungsverschiedenheiten sowohl innerhalb der Regierungs- wie auch der Oppositionsparteien.

Am 20. Januar hinterlegte der Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses der Institutionen und der Verfassungsrevision, Alex Bodry (LSAP), im Kammerplenum einen Entwurf zur Revision von Artikel 32, Absatz 4 der Verfassung, um auch den bisher auf internationale Krisen beschränkten Notstandsartikel in der Verfassung auszuweiten. Doch bisher wurde dies kaum zu Kenntnis genommen, von einer öffentlichen Debatte ist nichts zu merken, selbst die noch in der Referendumskampagne aktiven Verfassungsrechtler sind verstummt. Der Staatsrat, der den entsprechenden Artikel schon 2013 forderte, soll nun möglichst schnell sein Gutachten ablegen, damit das Parlament mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit von DP, LSAP, Grünen und CSV die Revision in erster und zweiter Lesung gutheißen kann.

Dabei wäre eine öffentliche Debatte über die blitzschnelle Revision gar nicht so abwegig. Nicht nur weil der Philosoph Giorgio Agamben all die neuen Notstandsartikel in den allgemeinen Zusammenhang einer „transformation radicale du modèle étatique qui nous est familier“ stellt und daran erinnert, dass „l’état d’urgence est justement le dispositif par lequel les pouvoirs totalitaires se sont installés en Europe“. Sondern auch weil der zuständige parlamentarische Ausschuss zusätzlichen Sachverstand durchaus vertragen könnte. Denn seit einem Jahr, seit er hinter verschlossenen Türen über einen Notstandsartikel für die große Verfassungsrevision diskutiert und ihn nun nach den Terroranschlägen von Paris auf Drängen des Premierministers vorzieht, legte der Ausschuss ein beachtliches Maß an Improvisation an den Tag. Mehrmals änderte er bereits die Ausrichtung der geplanten Bestimmungen, bald wollte er der Regierung mit möglichst knappen und unpräzisen Formulierungen unbeschränkte Vollmachten erteilen, bald ersann er Einschränkungen und parlamentarische Kontrollen, bald kehrte er zum politischen Blankoscheck zurück.

Nach dem nun beschlossenen Entwurf soll die Regierung zehn Tage alleine im selbst erklärten Notstand herrschen dürfen, danach können ihre Vollmachten bis zu einem halben Jahr lang von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments verlängert werden – über eine solche Mehrheit verfügte in den Achtzigerjahren die Regierung ohne Zutun der Opposition. Dass das Parlament bescheinigt bekommt, sich weiter von Rechts wegen versammeln zu können, ist zudem ein schwacher Trost. Denn eine direkt von der Verfassung zu Ausnahmemaßnahmen mandatierte Exekutive muss sich, auf die Gefahr einer Verfassungskrise hin, dem Parlament gleichrangig fühlen.

Nach dem nun hinterlegten Entwurf kann eine Regierung selbst entscheiden, wann und in welcher Form sie den Notstand erklären und sich damit über bestehende Gesetze hinwegsetzen will, um vielleicht die Strafprozessordnung, die Versammlungs- oder die Pressefreiheit einzuschränken. Beweggründe dürfen nicht nur „interna­tionale Krisen“ oder eine Bedrohung „lebenswichtiger Interessen der Bevölkerung“, sondern auch eine „ernste Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ sein. Im Gegensatz zur öffentlichen Sicherheit ist der Rechtsbegriff der öffentlichen Ordnung ein Relikt aus den Zeiten des repressiven Obrigkeitsstaats. Auch das Maulkorbgesetz hieß „Ordnungsgesetz“. Wenn aber Kriege oder Terroristen die öffentliche Sicherheit gefährden, wer gefährdet dann die öffentliche Ordnung: Asylsuchende? Ein Generalstreik?

Romain Hilgert
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