Wie kein anderer deutscher Landstrich steht der Schwarzwald für erfundene Authentizität

Fake Forest

d'Lëtzebuerger Land du 13.10.2023

Heutzutage ist es Mode, Fälschungen zu entlarven. Bei touristischen Attraktionen bringt Faktencheck aber nicht viel: Die Vorstellungen, die sich mit Reisezielen verbinden, sind nicht beliebig ausgedacht – sie ranken sich um einen wahren, einen echten Kern. In Coo zum Beispiel gibt es beim „höchsten Wasserfall Belgiens“ tatsächlich Belgien und Wasser, wenn auch zugegebenermaßen eher breit als hoch. „Schloss Neuschwanstein“ ist ein moderner Betonbau mit elektrischer Beleuchtung, seine Form jedoch von mittelalterlichen Burgen inspiriert. In der Autobahnraststätte „Heidiland“ spielte Heidi nie, aber die Berge und Ziegen drumherum sehen wirklich aus wie in einem japanischen Zeichentrickfilm.

Der „Schwarzwald“ im Südwesten Deutschlands ist seit rund 200 Jahren ein Sehnsuchtsort für Flachländler. Bis heute weiß man nicht, wo er anfängt und wo er aufhört, und oft ist er weder schwarz noch Wald. Für Geologen ist er dort zu finden, wo es keinen Muschelkalk gibt. Politisch-rechtlich wird der Schwarzwald ähnlich einfach wie Pornographie definiert: I know it when I see it.

Die Schwarzwald Tourismus GmbH vermarktet die Gegend zwischen Karlsruhe und Basel, sofern die jeweiligen Gemeinden Mitgliedsbeiträge zahlen, und hat als Logo einen stilisierten Bollenhut. Sie preist drei „weltberühmte Klassiker“, beziehungsweise „kulturelle Schätze aus dem Schwarzwald“ an: Kirschtorte, Kuckucksuhr und Bollenhut.

Die „Schwarzwälder Kirschtorte“ wurde 1915 im Café Agner in Bad Godesberg kreiert – Luftlinie etwa 300 Kilometer vom dunklen Forst entfernt. Später zog Konditor Josef Keller dann an den Bodensee, wo er erstmals das Rezept notierte. Der Schnaps dafür kann aus Kirschen gebrannt werden, die in der Rheinebene geerntet wurden. Zutaten für die Königin aller Torten können also unter Umständen quasi in Sichtweite des Schwarzwalds aufwachsen. Das ist immerhin mehr, als sich von den dänischen und holländischen Schweinen behaupten lässt, die als „Schwarzwälder Schinken“ verkauft werden.

Uhren aus Holz werden tatsächlich seit rund 300 Jahren im Schwarzwald gefertigt. In England wurde dafür das Label „Made in Germany“ eingeführt, um die Verbraucher vor dem billigen Ramsch zu warnen, der von Weitem wie richtige, teure Stahl-Uhren aussah. Die „original Schwarzwälder Kuckucksuhr“ aber hat mit Winter-Handwerk und Brauchtum nicht viel zu tun. Sie ist das Ergebnis eines Designwettbewerbs der Uhrmacherschule Furtwangen: Friedrich Eisenlohr, der Architekt der Badischen Staatseisenbahnen, kombinierte anno 1850 ein Uhrwerk, Ziffernblatt, geschnitzte Holz-
ornamente, Gewichte in Tannenzapfen-Form und eine Vogelfigur mit der Fassade des Standard-Bahnwärterhäuschens.

Traditionelle Kopfbedeckungen mit Puscheln oder Pompons gibt es in aller Welt, zum Beispiel in Schottland, Ungarn, Japan oder Korea. Im Schwarzwald waren früher dagegen bei Männern wie Frauen undekorierte Zylinder aus lackiertem Stroh üblich. Ausladende Trachtenhüte mit 14 leuchtend roten Wollkugeln, gut zwei Kilo schwer, wurden nur von jungen unverheirateten Frauen getragen, bei schönem Wetter, zu besonderen Anlässen, und nur in den drei Dörfern Gutach, Kirnbach und Reichenbach – also einer kleinen Ecke, die bis 1810 nicht zu Baden, sondern zu Württemberg gehörte und nicht katholisch, sondern evangelisch war. Noch weniger repräsentativ kann ein Schwarzwald-Symbol kaum sein.

Dass rotwangige Mädchen mit stilisierten Rosen auf dem Kopf heute trotzdem als Markenzeichen für ein ganzes Mittelgebirge gelten, ist Wilhelm Hasemann zu verdanken, einem Künstler aus Sachsen. Mit Curt Liebich, seinem Schwager aus Wesel am Niederrhein, gründete er ab 1882 eine Malerkolonie in Gutach, das mit der damals neuen Schwarzwaldbahn gut zu erreichen war. Hasemann ließ sich für seine Bäuerinnen-Modelle einen Fundus von Kostümen und 30 Trachtenhüten anfertigen und ein Atelierhaus samt Herrgottswinkel bauen – bald verkaufte er massenhaft Bildpostkarten. Die Operetten-Schnulze Schwarzwaldmädel, im Jahr 1950 der erste westdeutsche Farbfilm, verhalf den Bommeln dann endgültig zum Durchbruch.

In Zukunft wird Deutschland bei Weltausstellungen, Klimagipfeln und ähnlichen Anlässen vielleicht sogar noch öfter als bisher mit roten Bollen werben: Im Gegensatz zu Regierungsflugzeugen, Deutscher Bahn oder anderer „Hightech“ ist so ein Trachtenhut nicht nur schön, sondern auch wenig pannenanfällig; Wollbüschel sind recht robust, solange sie nicht mit Regen, Feuer oder Motten in Kontakt geraten. Von Reklame-Models werden Bollenhüte schon mal falsch herum aufgesetzt, aber das Publikum hat ja sowieso auch keine Ahnung.

Noch bis Ende Dezember 2023 ist in St. Märgen die Ausstellung Gang zum Kuckuck! 300 Jahre Schwarzwälder Kuckucksuhr zu sehen: kloster-museum.de

In Freiburg im Breisgau zeigt das Augustinermuseum noch bis 24. März 2024 die Ausstellung Wilhelm Hasemann und die Erfindung des Schwarzwalds: freiburg.de/hasemann

Martin Ebner
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