Mit dem vom Automobilzulieferer ZF entwickelten Algorithmus „X2Safe“ soll das Risiko von Verkehrsunfällen mit Fußgängern und Rafahrern erheblich minimiert, wenn nicht ausgeschlossen werden

Wenn das Auto um die Ecke schaut

d'Lëtzebuerger Land vom 27.01.2017

Moderne Automobile sind schon längst weit mehr als nur ein – wenn auch mitunter sehr kommodes – Fortbewegungsmittel. Eines, das Menschen mit und ohne Gepäck oder größere Lasten von Punkt A nach Punkt B bringt. Vollgestopft mit Sensoren, Elektronik, Daten und Algorithmen mutieren Autos (fast) zu selbstständigen Verkehrsteilnehmern, die dem Fahrer immer mehr Last, aber auch immer mehr Entscheidungen und damit Verantwortung abnehmen. Ein Conclusio von Ingenieuren, Designern, Programmierern, Netzwerkspezialisten und Zukunftsforschern arbeitet an rollenden Hightech-Burgen. Alles unter dem Diktat eines möglichst umfassenden Schutzes des gesamten Mobilitäts-Verbundes. Vor allem aber des schwächsten Gliedes in dieser Kette: dem Menschen.

Das geschieht derzeit auch bei ZF in Friedrichshafen am Bodensee, einem der weltweit größten Zulieferer und Komponentenentwickler der Fahrzeugbranche. Derzeit arbeiten die Visionäre, hart an der Wirklichkeit, an einem System, das Verkehrsunfälle zwischen Automobilen und Fußgängern oder Fahrradfahrern zumindest erheblich minimieren, wenn nicht sogar ausschließen soll. Sein Name: „X2Safe“. Alles, was man dazu braucht, ist ein Smartphone, eine Internet-Verbindung und eine von ZF-Experten entwickelte App. Dann kann es losgehen, so wie beim ersten Feldversuch Ende November an einem kalten Wintertag in der Nähe von München. Dort zeigten Mitarbeiter des Hauses, was mit X2Safe möglich ist und welche Chancen, aber auch Risiken das System derzeit noch birgt.

Die Szene: Fahrzeug und Fußgängerin, die wahlweise auch zur Radfahrerin mutiert, trennt ein Sichtschutz, bestehend aus einem meterhohen winterlichen Rest von einstmals grüner Hecke. Beide bewegen sich aus zwei Richtungen in einem Winkel von 90 Grad auf das Ende der Hecke zu. Dort werden sie sich, nach Tempo- und Zeitvorgaben, zum ersten Mal gegenseitig wahrnehmen. Um mit hoher Wahrscheinlichkeit zu kollidieren.

Das zu verhindern, ist die Aufgabe von X2Safe. Das System bedient sich dabei der Denk- und Vorgehensweise der so genannten „Generation Downhead“. Menschen also, die mit gesenktem Kopf auf das Display ihres Handys blickend, die Welt für sich entdecken. Oder sie, was in der Regel viel schlimmer ist, vergessen. Moderne Ausgaben der Spezies „Hans-guck-in-die-Luft“.

Was unter solchen Voraussetzungen passieren kann oder zwangsläufig auch passieren muss, ist klar: Irgendwann rumst es zwischen den so unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern. Fußgänger, die ihre eigene Knautschzone bilden, sind naturgemäß der schwächere Teil dieses mobilen Konfliktpotenzials. Die Hälfte der weltweit 1,25 Millionen Unfalltoten, das hat die Welt-Gesundheitsorganisation WHO bekannt gegeben, sind Menschen, die zu Fuß unterwegs sind. An diesem Punkt greift der ZF-Algorithmus X2Safe ein. Und zwar ohne dass man dafür eine aufwändige Infrastruktur benötigten würde.

Benötigt werden dafür zwei so genannte „Smart Devices“. Das können im Falle der eben beschriebenen Fußgängerin ein Tablet oder ein Smartphone sein. Ein weiteres Internet-fähiges Gerät befindet sich im Auto. Über das Netz und die Cloud stehen beide ständig miteinander in Verbindung. So warnen sich Autofahrer und Fußgänger beziehungsweise Radfahrer gegenseitig vor dem drohenden Crash.

Um Teil dieses gegenseitigen virtuellen Schutzschildes zu werden, muss man sich eine App herunterladen. Diese warnt vibrierend, optisch und akustisch vor einem Zusammenstoß. Möglich ist das mit einem Smartphone, einem Tablet oder auch mit einer Smartwatch.

Wir begleiten Fußgängerin und Radfahrerin auf ihrem kurzen Weg zum vermeintlichen Punkt des Zusammenstoßes und nehmen später im Fond des für dieses Experiment ausgesuchten Autos Platz. In beiden Fällen wird unübersehbar vor der drohenden, aber nicht sichtbaren Gefahr gewarnt, die sich unaufhaltsam nähert. Wie aber funktioniert so etwas? Das lassen wir uns von einer Expertin erklären.

Die wenigsten Zeitgenossen verdienen ihre Brötchen als bestens ausgebildete visionäre „Daten-Junkies“. Anders ist das bei Malgorzata Wiklinska, der Leiterin der ZF-Denkfabrik, deren „Baby“ das Assistenzsystem X2Safe ist. Aber auch sie musste erst am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Opfer eines Crashs mit einem stärkeren Verkehrsteilnehmer zu werden. Denn erst, als sich die Radsport-Enthusiastin bei einem solchen Vorfall ein Bein brach und sich fragte: „Warum hat der mich nicht gesehen?“, kam die Idee in Gang.

Die Ingenieurin vermittelt dem Betrachter die technische Grundlage des datengesteuerten Schutzengels: Durch den Datenaustausch könne das System auch ohne zusätzliche Hardware quasi „um die Ecke schauen“ und meldet ein fremdes Objekt, noch bevor der Mensch es überhaupt sehen kann.

Klingt einfach, ist es aber mitnichten. Denn dahinter steckt ein ziemlich komplizierter Algorithmus. Die Software nutzt nicht nur GPS-Daten, sondern auch Signale weiterer Sensoren und die Standort-Berechnung durch den Mobilfunk, um den gefährdeten Verkehrsteilnehmer zu lokalisieren. Die erreichbare Genauigkeit soll derzeit bei drei Metern liegen. Mit einem aufwändigeren 5G-Netzwerk soll es später einmal weniger als ein halber Meter sein. Zudem sollen so genannte „Roadside Units“ das System weiter verbessern. „Roadside Units“ stehen für die Kommunikation zwischen zwei Fahrzeugen (Car2Car) und Fahrzeugen mit einem anderen Verkehrsteilnehmer (Car2X)

Die ZF-Spezialisten haben ein komplexes Programm entwickelt, das die Bewegungsmuster der Verkehrsteilnehmer nachbildet. Daraus ergibt sich der möglichst genaue Zeitpunkt des Zusammenstoßes. Etwa einen Wimpernschlag, so die Ingenieurin Wiklinska, dauere die Zeit vom Auslösen bis zur Ankunft der Warnung: „Die Latenzzeit beträgt bei einem 3G-Internet hundert bis 150 Millisekunden.“

Bleibt nach den ersten verblüffend aufschlussreichen Tests die Frage, wie es weitergeht mit dem der ZF-Entwicklung: In einem halben Jahr, so Wiklinska, rechne man mit deren Serienreife. Immerhin habe ihr Unternehmen das System „acht Monate lang trainieren müssen, damit es richtig reagiert und weiß, wer sich wie bewegt“.

Denn ein Fußgänger bewege sich anders als ein Radfahrer. Und ein Benziner anders als ein Diesel oder ein Elektrofahrzeug. „Unser Algorithmus ist lernfähig und nimmt immer mehr Impulse auf“, erklärt die Expertin. So soll das System erkennen lernen, wie viele Leute um es herum unterwegs sind, um nicht permanent Warnhinweise zu geben. ZF hat die Branche mit seiner Entwicklung aufgerüttelt. Neben Autoherstellern bekunden inzwischen auch Produzenten von Navigationssystemen und Software Interesse an X2Safe.

In (ferner?) Zukunft soll das X2Smart-System aber nicht nur warnen, sondern auch nach eigenem Ermessen eine Notbremsung einleiten. Die größte Schwachstelle aller Berechnungen und Verbindungen sei, so Malgorzata Wiklinska, derzeit der „Faktor Mensch“ und dessen mitunter logisch nicht vorhersehbare Reaktionen.

Was irgendwie aber auch sehr beruhigend wirkt.

Jürgen C. Braun
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