In Großbritannien könnten Zwangsräumungen von Zigeunersiedlungen bevorstehen. Spezialisierten Sicherheitsfirmen winkt ein lukratives Geschäft

„Die haben einen schlechten Ruf hier“

d'Lëtzebuerger Land du 04.11.2010

In Großbritannien empörte man sich sehr über die Ausweisungen von Roma aus Frankreich, doch über die Lage der Roma und der Irischen Traveller zuhause verlor fast niemand ein Wort. Dabei gipfeln heute Konflikte, die seit Jahrzehnten andauern, in handgreiflichen Zwangsräumungen. Die Räumung der größten Zigeunersiedlung in England könnte in den nächsten Wochen erfolgen.

„Die Zigeunersieldung in Hove-fields? Da hab ich schon lange keinen mehr hingefahren“, verrät der Taxifahrer am Bahnhof von Wickford, einer Stadt im Süden der Grafschaft Essex. Er nennt einen Preis, fügt aber gleich hinzu, dass er nur bis zur Tankstelle vor der Siedlung fahre. Die Straße sei schlecht, erklärt er. Als er während der Fahrt erfährt, dass seine Kundin keine Zigeunerin ist, wird er plötzlich entspannter. Auf die Frage, ob denn viele Zigeuner seine Dienste in Anspruch nehmen, schüttelt er den Kopf. „Wir Taxifahrer nehmen die erst gar nicht mit.“ Wieso? „Ach ..., wegen deren Benehmen. Die haben einen sehr schlechten Ruf hier.“

Doch misstrauisch sind auch die Zigeuner. Sobald man die Hovefields-Siedlung über den Feldweg hinter der Tankstelle erreicht, beginnen hinter fast jeder der hohen Umzäunungen Hunde zu bellen. Anders als erwartet wohnen die Reisenden hier nicht mehr in Wohnwagen, sondern in kleinen Fertighäusern, deren breite Einfahrten und verzierten Zäune an amerikanische Villen erinnern. Auf einem der Tore sitzen Skulpturen übergroßer, schwarzer Falken, die auf den Besucher herabschauen. Ein wenig weiter klafft zwischen den Reihen von Fertighäusern ein Baggerloch, das sich bis zum Ende der Ortschaft zieht.

Hier wurden Anfang September die Wohnsitze von rund 60 Einwohnern irischer und Roma-Abstammung auf Antrag des Gemeinderats von Basildon abgerissen. Die Wohnsitze waren ohne gültige Baugenehmigung im neuen Grüngürtel der Gemeinde errichtet worden und demnach illegal. Beim Errichten dieser Wohnsitze galt die Fläche angeblich jedoch noch nicht als Grüngürtel. Den Bewohnern wurde im August eine 28-Tage-Frist gesetzt, um den Ort zu verlassen. Doch die Gruppe blieb stur.

Am 7. September rollten gegen acht Uhr morgens die Bagger an. Während der Ausweisung kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten, Aktivisten und Zigeunern. Der Anblick des Ortes zeigt jedoch, dass dieser Widerstand zwecklos war. DVD-Hüllen, Spielzeug und kaputte Möbel, die aus Erdhügeln ragen, erinnern noch an die ehemaligen Bewohner, von denen viele seit der Räumung noch immer kein legales Zuhause gefunden haben. Gerade mal zwei Personen sollen eine Unterkunft in einer anderen Siedlung gefunden haben; andere ließen sich auf einem nahe gelegenen Parkplatz nieder und wurden sofort wieder von der Polizei aufgegriffen.

Hovefields ist nicht der einzige Ort in Essex, wo der Streit zwischen Zigeuner-Gemeinschaften und Gemeinderäten in Auseinandersetzungen gipfelt. Unweit von Hovefields befindet sich Dale Farm, die größte Roma-Siedlung Englands. Aktivisten befürchten, dass die Räumung von Hovefields sozusagen als logistische Testphase für die von der Gemeinde beauftragte Sicherheitsfirma Constant [&] Co. diente, die auch für bevorstehende Massenausweisung in Dale Farm zuständig sein soll.

Roma, Traveller und andere nomadische Minoritäten hatten es in Großbritannien schon immer schwer. In den Sechzigerjahren führte die Labour Regierung von Harold Wilson den Caravan Sites Act ein, ein Gesetz, das jede Gemeinde verpflichtete, Land für „Gesellschaften mit nomadischem Brauch“ bereitzustellen und sie vor Räumungen und Angriffen zu schützen. Dies mag sich auf den ersten Blick sehr vorteilhaft für Zigeuner lesen, doch mit dem Gesetz wollte die Regierung für Integration sorgen und Reisende zur Niederlassung bringen. In Orten, wo Zigeuner seit Jahrzehnten lebten, bestimmten nun die Gemeinderäte, ob und wo sich Zigeuner niederlassen könnten. Auch gaben viele Gemeinden an, kein „Zigeuner-Problem“ zu haben und deshalb auch kein Land bereitstellen zu müssen. Verschiedene Familien gaben auf und zogen in Fertighäuser oder moderne Wohnwagen.

Der Caravan Act wurde schließlich in den Neunzigern abgeschafft. Zigeuner wurden von der Regierung offen ermutigt, Land zu kaufen. Im Criminal Justice and Public Order Act, der von der damaligen Tory-Regierung im Jahre 1994 eingeführt wurde, sehen viele Zigeuner allerdings das Ende der nomadischen Tradi-tion, die Zigeuner seit dem Sechzehnten Jahrhundert in Großbritan-nien gepflegt haben. Harry Smith, ein Zigeuner in einer Siedlung in Harlow, Essex, gab seine Frustration im Independent preis: „Ich fühle mich schrecklich, weil ich ein Reisender bin und das jetzt nicht mehr machen kann. Die Gesellschaft will dir das hier nicht erlauben.“

Grattan Puxon vom Gypsy Council, einer Organisation die Zigeunern unter anderem bei gerichtlichen Angelegenheiten hilft, erklärt, dass die meisten Reisenden in Großbritannien sich zwar immer noch als Roma oder Traveller sehen, das Reisen jedoch seit längerem aufgegeben haben. „Von ungefähr 350 000 Irischen Travellers und Roma, die in Großbritannien leben, reisen nur noch ungefähr 40 000“, sagt der Aktivist. Viele leben demnach in Sozialwohnungen oder haben nach langem Verhandeln dann doch noch eine Baugenehmigung erhalten. So sieht man zum Beispiel auch in Teilen Londons legale Siedlungen, die durch Fertighäuser zu erkennen sind und neben denen fast immer ein moderner Wohnwagen parkt. So auch im East End der Hauptstadt: Hinter einem Bahnübergang in Eleanor Street 19 befinden sich permanente Stellplätze, für die sogar eine eigene gemeinsame Postleitzahl gilt. Andere Roma und Traveller mussten wegen den Aufbauarbeiten des Olympischen Dorfs gezwungenermaßen wieder verreisen, fanden aber anschließend ein neues Gelände im East End.

Dort, wo Zigeuner noch nicht aufgegeben haben, geht der Streit jedoch weiter. Der Traveller Law Reform Coalition zufolge fehlen in Großbritannien noch heute rund 3 500 bewohnbare Stellen für Zigeuner. Die 150 Millionen Pfund, die die letzte Labour-Regierung örtlichen Behörden zur Bereitstellung von Grundstücken für Reisende versprach, werden seit dem Wahlsieg der Tories nicht mehr erwähnt. Auch ignoriere die aktuelle Koalition Berichte aus jahrelangen Recherchen, die in ganz Großbritannien von den Standorten der reisenden Gemeinschaften und deren Bedürfnissen zeugen, so Grattan Puxon.

Die langjährigen Konflikte zwischen Zigeunern und sesshafter Gesellschaft scheinen gerade wegen der Natur beider Parteien kein Ende zu nehmen: die meisten Zigeuner wollen nicht wie die sesshafte Mehrheit leben. Doch das ist auf Dauer unmöglich, da kein Fleck Land ohne Besitzer und Preis ist. Gemeinderäte sind an Gesetze gebunden und se-hen die Lösung entweder in Räumungen oder versuchen die Zigeuner mit Sozialwohnungen zu einem sesshaften Lebensstil zu überreden.

Doch auch die sesshafte Gesellschaft spielt in dem Konflikt eine Rolle, und Hetzartikel der Boulevardpresse, die vor der EU-Erweiterung 2004 vor „Zigeuner-Invasionen“ warnten, verstärken das gegenseitige Misstrauen. Dorfbewohner beschweren sich über nomadische Nachbarn, und in vielen Fällen ist es zu Brandstiftungen und körperlichen Auseinandersetzungen gekommen. Zigeuner lassen sich demnach auf abgelegenen Geländen nieder, für die sie allerdings in den meisten Fällen keine Baugenehmigung erhalten. So wird die Situation zum ewigen Teufelskreis.

„Die Lage hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verschlechtert“, beobachtet Grattan Puxon, der die Situation der Zigeuner in mehreren europäischen Ländern erlebt hat. „Wieso das so ist, ist mir unerklärlich. Ich glaube aber, dass sich die Intoleranz in Europa und Großbritannien für Roma und Traveller verschlechtern wird, vor allem nachdem konservative Parteien fast überall an der Macht sind“, bedauert Puxon. Er mag Recht haben: die sesshaften Bewohner in der Nähe von Dale Farm, der größten Roma- und Traveller-Siedlung Englands, befürchten laut Medienberichten bereits, im Falle einer Räumung „die Zigeuner in unserem Garten zu finden“. Eine junge Frau erklärt, die Nachbarschaft, in der sie lebt, sei „sauber und freundlich, und wir wollen nicht, dass sich das ändert“. Zigeuner wollen ihrerseits ihre Kinder „weit von den Vorurteilen der Sesshaften großziehen“.

Politiker sind überfordert. Auf die Frage, was der nächste Schritt sei, falls Zigeuner die von der Gemeinde bereitgestellten Sozialwohnungen ablehnten, antwortete Ratsherr Tony Ball, dass die „ja schließlich von irgendwo hergekommen sind“ und dass „irgendwann Schluss sein muss.“ Die Familien haben die Wohnungen in der Zwischenzeit bereits abgelehnt. Die heranrückende Räumung wird den Fall also auch nicht lösen.

Die einzigen Beteiligten, die sich auf die Räumung freuen werden, sind Constant [&] Co. Der Sicherheitsdienst hat laut Gypsy Council einen Vertrag über umgerechnet drei Millionen Euro mit der Gemeinde Basildon abgeschlossen. Die Firma gibt als Spezialität „Zwangsräumung von Zigeunersiedlungen“ an und beschreibt sich als „One-stop Shop“: Neben der Räumung der Menschen und deren Wohnsitzen kann man einen professionellen Säuberungsdienst gleich mitbestellen, Betonbarrikaden ebenfalls. Nachher sieht es dann aus, als habe es dort nie Zigeuner gegeben.

Claire Barthelemy
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