Verrückt nach Trost begleitet die Protagonisten auf ihrer Suche nach echter Bindung, archaisch, metaphorisch, körperlich – getragen von grandiosen Darsteller/innen

Ein Leben frei von Fell und Panzer

d'Lëtzebuerger Land du 16.12.2022

Mit schlackernden O-Beinen und schaukelndem Becken, einen schwarzen Kunststofftrog voll Stroh hinter sich her schleifend, bewegt sich André Jung durch den Seiteneingang entlang der Tribüne, schiebt sich vor die vordere Reihe, sinkt murmelnd auf den Bühnenboden nieder. Die Handrücken verkrümmt nach innen gewinkelt, greift er büschelweise nach dem Stroh in der Wanne, klaubt es hervor und wirft es über seine Brust, sein schütteres graues Haar. Es fasert herab und breitet sich um die mächtigen Hüften aus. Längst ruhen Jungs Augen tief, schläfrig wachend, weise in den Höhlen eines Orang-Utans. Längst haben sich die Wangen und die Lippen zum Affenmaul gebläht. Dezent nur, nicht schrill, nicht albern. Das könnte der besoffenste Großonkel beim ausartenden Familienfest. André Jungs Stil des gestischen Minimalismus liefert gerade, was nötig ist, damit das Publikum sich dieses Tier vorstellen kann und den Darsteller ausblendet.

Der schwingt den Trog sachte über den Rücken des herannahenden Sebastian Blomberg. Dieser krabbelt langsam, ganz langsam, unter dem Gewicht von 180 Jahren auf allen Vieren über denselben Bühnenboden, die Hände seitlich abgewinkelt, Nacken und Kopf geduldig hin und her wippend. Die Schildkröte trägt einen Panzer. Die Handlung verliert ihre zeitliche Dimension. Das menschliche Zeitempfinden, von der humanen Lebenserwartung abgesteckt, verliert sich in der chronologischen Dehnung einer steinalten Kröte, in der Engelsgeduld unserer äffischen Vorfahren. Zwei Wandlungen, die das Publikum verstummen lassen. So wenig Mittel, so viel Talent und dazu diese tiefe Empathie für das Wesentliche in beiden Kreaturen.

In Thorsten Lensings eigens inszeniertem Drama Verrückt nach Trost begleitet das Publikum die Geschwister Felix (Devid Striesow) und Charlotte (Ursina Lardi) im Grand Théâtre durch ein ganzes Leben, geprägt von Trauer und der Suche nach echter Gemeinsamkeit. Felix und Charlotte gehen ihrem täglichen Ritual nach, aus dem Meer an den Strand zu schwimmen und die Trauer um ihre toten Eltern zu verarbeiten, indem sie deren Intimitäten vom Einölen bis zum gegenseitigen Kitzeln nachahmen und die Eltern so wiederaufleben lassen. Doch Charlotte will das Spiel eines Tages nicht mehr. Sie mag nicht mehr aufleben lassen, wer tot ist.

Ihre Wege trennen sich in zwei parallele Kapitel, ihrem jeweiligen Erwachsenwerden. Im eingeübten Zungenkuss, homoerotischem Körperkontakt und der Unfähigkeit, im Dunkeln zu schlafen, zeigt sich Felix’ Unvermögen seit dem Tod der Eltern, sich selbst zu fühlen. Charlotte hingegen versucht in den neun Gehirnen ihrer imaginierten Oktopus-Tentakel die Welt, sich selbst zu verstehen. Klingt verrückt, fügt sich aber ein in diese breite Galerie des Begreifen-Wollens.

Da gibt es noch einen Taucher in voller Montur, der seiner Todessehnsucht im Tiefenrausch nachgehen wollte und wehleidig an denselben Strand gespült wird: „Meine Frau hat vergessen, mich zu verlassen“, meint er lebensmüde. Er wird über dem Wellengang, die Oberfläche einer meterhohen Metallwalze, förmlich abgerollt. Da wird ein Roman herausgegraben, der sich mit dem elterlichen Ekel an ihrem Neugeborenen (herrlich: Devid Striesow) befasst. Diese und viele weitere Einfälle und Figuren bieten ein Spektrum an Ideen, Motiven, Textmomenten und Szenen rund um die menschliche Sehnsucht nach Trost im Verlust und dem Wunsch nach echter Zwischenmenschlichkeit.

Die Gegenentwürfe zu dieser Echtheit sind die perfekt kalkulierten Sentenzen eines Pflegeroboters. Im Pflegeheim feiert Charlotte ihren 88. Geburtstag. Auf ihrer emotionalen Klaviatur klimpert der Roboter (einmal mehr: André Jung) souverän herum und beglückt sie mit algorithmisch präzisen Phrasen, mal romantisch, mal sexuell, auch intellektuell. Matthias, der schwule Liebhaber von Felix, sucht seinen Trost in einer Musikbox. Er lehnt sich über sie und lässt sich mit den Kau-, Schluck- und Duschgeräuschen eines verflossenen Liebhabers im Dolby-Surround beschallen.

Der Suche nach dem Menschlichen, nach dem wahren Erleben, verleihen Regisseur Thorsten Lensing und Dramaturg Dan Kolber in unterschiedlichen Einfällen Kontur. Die vielseitige Lexik und die zahlreichen zoologischen Hintergründe vom Clownfisch bis zum Oktopus erforderten zweifellos eine aufwändige Recherche. Dazu kommt, dass die Darsteller/innen ein präzises Gefühl für Timing benötigen, um die völlig überdrehte Einübung eines Kusses und das aussichtslose Ausziehen eines Neopren-Anzugs in die Handlung des immerhin dreistündigen Theaterabends einzuordnen.

Die zahlreichen Handlungsmomente im Leben beider Geschwister werden in ihrer Chronologie nicht geordnet. Lensing löst die Dimension von Wahrheit und Fiktion, von Jetzt und Eben weitestgehend auf. Die Motive des Verlusts und der Verlangsamung eines – hier – vereinsamenden menschlichen Lebens fallen aus der Zeit. Was die Protagonist/innen leben, sprechen, träumen und denken, ist teilweise nicht mehr zu orten.

Am Ende werden „alle erlöst“. Am Ende wird die räumliche Wahrnehmung verknappt, indem die Pflöcke mit schweren Hämmern weggeschlagen werden. Die Metallwalze wird in den vordersten Bühnenbereich gerollt. Charlotte wohnt im Pflegeheim. Das Meer, dem sie einst entstiegen ist, der Meeresgrund mit allen Seesternen und Feuerfischen, auf dem der Taucher anfangs den Tod suchte, ist näher gerückt. Der Pflegeroboter bringt ihr unverhofftes, vermeintliches Glück, pervertiert und unecht, wie so manche eigenwilligen Wege in diesen Biografien, so verrückt nach Trost.

Claude Reiles
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