Die kleine Zeitzeugin

Länderfluid

d'Lëtzebuerger Land du 20.10.2023

Abgesehen von Wohngebiets- und Europa-Wahlen habe ich in meinem Leben drei Mal gewählt, höchstens. In meiner Juhugend weilte ich gerade immer irgendwo, artig schrieb ich mein Entschuldigungsbrieflein. Als selbsternannte Maoistin, Trotzkistin, Anarchistin und später als von anderen sg. Hippie war mir das vollkommen egal, Revolution wurde auf dem Wahlmenu sowieso nicht angeboten. Manchmal vergaß ich das Brieflein, und ich vergaß, dass ich es vergessen hatte. Und der Staat, der mich nicht am Schlafittchen packte, hatte mich genauso vergessen wie ich ihn.

Die Hälfte meines Lebens habe ich in einem anderen Land verbracht. Auch in Österreich habe ich, abgesehen von Bezirkswahlen bei denen ich als EU- Bürgerin mein Stimmlein abgeben darf, noch nie gewählt. Ich bin Ausländerin. Obschon ich dieses Land und seine Politik bestens kenne und direkt von ihr betroffen bin, wird mir nur die Betroffenheit zugestanden. Angeboten wird mir die Staatsbürgerinnenschaft. Dafür müsste ich allerdings meine Staatsbürgerinnenschaft, die luxemburgische, aufgeben. Das kann und will ich nicht. Auch wenn ich auf Demos gern No Nations, No Borders schreie und von einer grenzenlosen Menschlichkeit träume, habe ich Luxemburg intus. Lëtzebuerg huet een an der Panz! murmelte ich mir mal verständnisvoll zu, in dieser Sprache, in der es eine der angeblich unromantischsten Liebeserklärungen der Welt gibt. Ich kenne keine bessere.

Klar kann man sagen, was ist schon Nationalität? Um zu lieben oder etwas zu sein, braucht man weder Stempel noch Urkunde, man kann sich pragmatisch entscheiden. Ja. Trotzdem. Es sträubt sich in mir.

So lebe ich als ewiger Gast, als ewige Passantin, als chronisch Provisorische. Die, die keine Stimme hat und über die bestimmt wird, worüber sie dann klagen und schimpfen kann. Sie ist ja nicht zuständig für die Zustände. Sie ist nicht schuld an nichts. Dass dieser Zustand, der keiner ist, mir persönlich liegt, dass ich als Profi-Outsiderin mich nicht unwohl zwischen allen Stühlen und zwei Ländern fühle, so außerhalb und drüber, so jenseits jeder verpflichtenden Stellungnahme und letztendlich verantwortungslos, ist mein persönliches Problem. Oder eher Nicht-Problem. Es ist kein Rezept für eine erwachsene und verantwortungsvolle Teilhabe.

In Luxemburg dürfte ich wählen. Das lehne ich als unmoralisch ab. Wieso soll ich das Recht haben, durch meine Wahl eine politische Richtung mitzubestimmen, von deren Ausgang ich nur minim betroffen bin? Warum sollen Auslandsluxemburgerinnen, die seit ewig – und vielleicht „für immer“ – „weg“ sind, mitbestimmen bei etwas, das auf ihr unmittelbares Leben kaum Auswirkungen hat, während die die es ausbaden stimmlos sind? Die mit ihrer oft schweren Arbeit dieses Land erst ermöglichen, unter Bedingungen von denen die Natives in ihrer von satten Erbschaften gepolsterten Parallelwelt keinen blassen Schimmer haben.

Nicht nur in Luxemburg, aber hier extrem, stellt das Wahlvolk, das v.a. aus alten grauen Frauen und Männern und aus Beschäftigten aus den geschützten staatlichen Werkstätten besteht, eine besonders groteske Verzerrung der Bevölkerung dar. Hier die Dienenden, da die Verdienenden. Ein Land ohne Teilhabe für die meisten Beteiligten ist aber auf Dauer eine Selbsttäuschung.

Teilhabe bietet Luxemburg mit seinem niederschwelligen Doppelstaatsbürgerschaftsangebot dennoch großzügig an. Von Neo-Staatsbürger/in wird nicht erwartet, sich zu bekennen und zu trennen, von einem wesentlichen Teil von sich selber. Man stürzt Mensch nicht in eine Identitätskrise. Man bietet an, ohne wegzunehmen. Also könnte doch jede/r, der interessiert ist, mitmachen? Mitentscheiden, mitwählen?

Warum wird diese Chance so wenig wahrgenommen? Und was ist mit der nachvollziehbaren Identitätskrise fremdelnder Natives, die befürchten, dass ihr Land zu einem gesichts- und geschichtslosen Großraum mutiert? Wie den Spagat hinkriegen?

Viele Schichten bilden die Geschichte eines Menschen, Identitäten sind nicht starr, sie interagieren, beeinflussen sich, sind fließend. Ein Großteil der Bewohner/innen Europas ist länderfluid. Wird die Integration dieses Fluidums nicht die Voraussetzung von Stabilität sein?

Michèle Thoma
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