Drei-Punkte-Programm im Fahrzentrum in Colmar-Berg

Alle gleich vor dem Punkteführerschein

d'Lëtzebuerger Land vom 30.01.2015

8.15 Uhr in der Früh, draußen ist es noch dunkel. Am Empfangsschalter im Fahrzentrum in Colmar-Berg hat sich eine Schlange gebildet, ein Mitarbeiter kopiert Führerschein und Fahrzeugpapiere der Kursteilnehmer am heutigen Freitag. In der Cafeteria herrscht reger Betrieb, es finden heute mehrere Kurse statt, unter anderem für Fahranfänger und LKW-Fahrer. Der Kursleiter sucht im Büro seine Unterlagen, ruft draußen im Gang seine Teilnehmer zusammen: „Diejenigen, die hier sind für den Drei-Punkte-Kurs, mitkommen bitte.“ Elf Leute folgen ihm die Treppen hoch in einen engen Raum, die Jalousien an den Fenstern sind heruntergelassen.

Erste offizielle Handlung des Tages: Der Kursleiter reicht die Speisekarten des Restaurants herum und eine Liste, auf der die Kursteilnehmer eintragen sollen, was sie zu Mittag essen wollen. Dann beginnt das eigentliche Programm. „Ich bin Philippe“, stellt sich der Kursleiter vor, „ich liebe Autos. Sie wahrscheinlich auch. Was uns voneinander unterscheidet: Ich habe noch alle Punkte auf dem Führerschein. Sie nicht.“ Die elf Teilnehmer mittleren Alters, die unter dem Neonlicht sitzen, sehen Philippe mit etwas bedrückter Miene an. Sie sind nicht zum Mittagessen nach Colmar-Berg gekommen, sondern weil sie am Ende des Tages ein Präsenzzertifikat mitnehmen wollen, das für sie die Gutschrift von drei Punkten in ihrem Führerschein bedeutet.

Dass sie die dringend nötig haben, wird sich gleich zeigen. Reihum stellen sich die Teilnehmer vor. Im Führerschein-Punkte-Kurs bedeutet das, außer den Vornamen zu nennen, dass jeder sein Verkehrssündenregister aufzählen muss. A. fängt an. Er war im Dorf statt mit 50 mit 80 Stundenkilometern unterwegs, außerdem nicht angeschnallt. Philippe schreibt auf und addiert die Punkte. „Was machen Sie beruflich?“ „Ich bin professioneller Fahrer“. Allgemeines Gelächter. „In Rente“, fügt A. schnell hinzu.

L. fuhr mit Tempo 75 statt 50, seine Tochter war nicht angeschnallt: „Sie hat geweint, da haben wir sie losgemacht.“ Fünfmal wurde er ohne Gurt erwischt, außerdem war sein Tüv nicht mehr gültig. Phillipe multipliziert und addiert. Neun Jahre und sechs Monate sind seit dem ersten Punktverlust vergangen. L. bleibt noch ein Punkt. Er besucht den Kurs nicht zum ersten Mal. Er ist Maler und braucht seinen Führerschein.

Philippe erzählt vom sozialen Abstieg derer, denen der Führerschein entzogen wurde. Kein Führerschein, keine Arbeit, kaum soziale Kontakte, kein Geld, um die Kinder zu ernähren. M. hat keine drei Jahre gebraucht, um zehn Punkte zu verlieren. Geschwindigkeit, Sicherheitsgurt, Tüv... Er ist Bankangestellter. Vor dem Punkteführerschein sind alle gleich, vom Arbeiter bis zum CEO sind alle sozialen Klassen vertreten.

Philippe blättert in den Akten der Teilnehmer. Manchen muss er auf die Sprünge helfen. Von alleine beichten nicht alle alles. Entweder, weil sie den Überblick über die vielen Delikte verloren haben – M., ein Unternehmer „in vielen Bereichen“, war so oft beim Richter, dass er bald ein eigenes Büro im Gericht einrichten werde. Oder, weil es ihnen doch vielleicht ein wenig peinlich ist. L. sitzt mit verschränkten Armen da und ist einfach nur sauer. Vor seiner Haustür hatte ihn eine Streife schlafend im Auto gefunden. Er verweigerte den Alkoholtest. Auf einen Schlag waren damit acht Punkte weg. Er fühlt sich ungerecht behandelt, schließlich sei gar nicht erwiesen, dass er betrunken gefahren sei. Die anderen Kursteilnehmer fühlen mit ihm. Philippe erklärt: Wer nicht fahren und lieber schlafen will, muss das auf dem Rücksitz tun. „Was ist, wenn man einen Zwei-Sitzer fährt?“, fragt L. erbost zurück. Über L’s verflixtes Pech – er trinke nie, wenn er noch fahre, weil er meistens mit dem Motorrad unterwegs sei –, diskutieren die Teilnehmer noch eine Weile.

Dabei versucht Philippe ihnen klarzumachen, dass sie nicht hier sind, weil sie ungerecht behandelt wurden oder die Polizei mit ihnen besonders streng ist. Sondern weil sie Wiederholungstäter sind. Er beamt Grafiken an die Leinwand. Von 500 000 Personen, die auf Luxemburgs Straßen unterwegs sind, hatten Ende 2013 166 433 insgesamt 544 370 Punkte verloren. So viele wie die Leute, die heute im Raum sind, haben allerdings nur die wenigsten eingebüßt: 147 hatten noch einen Punkt, 593 hatten noch zwei und 331 verfügten noch über drei Punkte. Statistik nach Statistik führt der Kursleiter vor, um zu verdeutlichen, dass wer nach Colmar-Berg kommt, einer Minderheit angehört und selbst Schuld ist. Denn rund 85 Prozent derjenigen, die überhaupt Punkte verlieren, bekommen sie nach drei Jahren automatisch zurück, weil sie kein weiteres Mal auffällig werden.

Der Unternehmer M. will das alles so nicht durchgehen lassen. Für ihn sind besonders die Statistiken über Verkehrsunfälle – 32 Verkehrstote 2010 – verfälscht: wegen der vielen Grenzpendler. F, ist genausowenig beeindruckt, als Philippe sagt, dass jeden Tag 150 Personen auf den Straßen Europas sterben. In seiner Heimat Brasilien seien es viel mehr, bekräftigt er.

Dann zeigt Philippe einen Zeitungsbericht vor. Fünf Jahre Zuchthaus und neun Jahre Führerscheinentzug für den Unfallfahrer Seko, der eine alte Frau am Zebrastreifen angefahren und tödlich verwundet hat. Er war betrunken, ist zu schnell durch Rot gefahren, hat Fahrerflucht begangen und hatte obendrein bereits keinen Führerschein mehr. Die Kursteilnehmer sind empört, vollkommen unverantwortlich finden sie, was er gemacht hat. Dann dämmert manchen von ihnen, was Philippe vorhat. Er geht ihre Delikte noch mal durch. Wer von ihnen war nicht schon zu schnell oder angetrunken unterwegs, hat die Ampel bei Rot überquert? Jeder von ihnen könnte Seko sein. Der Kursleiter legt nach, zeigt Fotos von schweren Verkehrsunfällen. Die Blutlache glänzt dunkelrot auf dem Asphalt.

Kurz vor Mittag geht es raus auf die Piste. Philippe verteilt Funkgeräte, über die er seine Anweisungen gibt. Die Kursteilnehmer sollen auf nassem Untergrund mit Tempo 30 fahren und auf Kommando vollbremsen. Das erste Auto ist viel zu schnell unterwegs. „Zu schnell“, gibt Philippe knapp durch. Danach traut sich erst mal keiner, überhaupt noch auf 30 zu beschleunigen. Die Ironie der Situation lässt der Kursleiter nicht ungenutzt verstreichen: „Wie? Draußen immer zu schnell unterwegs und hier nicht mal 30 fahren?“, scherzt er trocken. Die Teilnehmer sollen einschätzen, wie weit ihr Bremsweg ist, wenn sie mit 60 Stundenkilometern, also doppelt so schnell wie im ersten Durchgang fahren, und die Stelle, an der das Auto zum Stehen kommt, mit einem Verkehrskegel markieren. Sie verschätzen sich alle drastisch, auch die, die den Kurs bereits zum zweiten oder dritten Mal absolvieren. Sie haben strikt kein Gefühl dafür, wie lang der Bremsweg sein könnte. Nur der wütende L. mit seinem Zweisitzer taut plötzlich auf. Er gibt die realistischste Schätzung ab und interessiert sich eingehend dafür, wie der Bremsweg berechnet wird. Als die Teilnehmer an Philippe vorbeifahren, um die Funkgeräte zurückzugeben, tragen zwei von elf keinen Gurt. Ruhig, unaufgeregt, wie er den ganzen Morgen schon ist, weist Philippe sie darauf hin.

Beim Mittagessen darf M., die einzige Frau unter zehn Männern – das entspricht der üblichen Geschlechterverteilung unter den Kursbesuchern –, kein Glas Wein bestellen. „Ich trinke immer ein Glas Wein beim Essen“, protestiert sie, fügt sich aber doch dem Alkoholverbot. Nach dem Mittagessen übernimmt die Verkehrspsychologin Mireille die Gruppe. Sie zieht die Jalousien hoch, lässt Tageslicht in den Raum und entschuldigt sich im Voraus für Französisch-Fehler. Nach bad cop kommt good cop.

Mireille versucht, mit den Teilnehmern durchzugehen, warum sie zu schnell fahren: „Stress, Unaufmerksamkeit, Zeit sparen, provoziert werden, Spaß am Fahren.“ F., der einen zweitürigen Kleinwagen fährt, berichtet, dass er auf der Fahrt hierher A. in seinem teuren Sportwagen auf der Autobahn überholt hat, um ihn ein wenig zu provozieren. A. tippt auf seinem Handy herum, als er aufblickt und merkt, dass es um ihn geht, sagt er: „Heute morgen? Da war ich noch nicht ganz wach.“ Großes Gelächter. Die Stimmung entspannt sich zunehmend.

Mireille erzählt von all denen, die sie kennt, die gegen die Verkehrsordnung verstoßen und nicht erwischt werden. Die Teilnehmer fühlen sich verstanden und sind bereit, nach konkreten Lösungen zu suchen. Früher losfahren, gegen das zu schnelle Fahren. Tief durchatmen gegen den Stress. „Das hilft, ich schwörs’!, sagt M. Handy und Radio abschalten gegen die Unaufmerksamkeit. D. entpuppt sich als Alleinunterhalter: „Nicht mit der bella signorina im Auto neben dir flirten.“

Gegen das Fahren unter Alkoholeinfluss hat er einen ganz persönlichen Tipp: „Eine Muslimin heiraten. Habe ich gemacht. Klappt wunderbar.“ M., die morgens bedauert hatte, dass man nicht einmal mehr Essen gehen könne, ohne dafür bestraft zu werden, schlussfolgert, ein Taxi sei billiger als ein Bußgeld zu zahlen und Punkte zu verlieren. Mireille gibt ihnen, unter allen Vorbehalten, eine Faustregel für den Alkoholkonsum mit auf den Weg. Das Körpergewicht in Kilogramm durch 40 dividiert entspricht den Alkoholeinheiten, die man theoretisch trinken könnte und dennoch fahrtüchtig zu sein. Bei einem Körpergewicht von 80 Kilo wären das zwei Bier. Eine Diskussion entsteht darüber, was man tun kann, um den Blutalkoholspiegel zu senken. „Übergeben?“ fragt einer. „Nein“, antwortet ein anderer. „Der Alkohol ist ja bereits im Blut.“

„Als ich angefangen habe, war ich so naiv zu denken, dass man an einem Tag die Gewohnheiten verändern kann“, sagt die Psychologin. Der Unternehmer M., der bald ein Büro neben den Richtern beziehen will, fordert: „strengere Strafen.“ Das ist seiner Ansicht nach das einzige, was hilft. Viele pflichten ihm bei.

Michèle Sinner
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