Europa und der 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs

Jahrestage

d'Lëtzebuerger Land vom 03.01.2014

Erinnerung ist jederzeit wohlfeil. Doch insbesondere das Jahr 2014 ist reich an Gedenktagen von Ereignissen, die Einfluss auf die europäische Geschichte nahmen. Am 28. Juli jährt sich zum einhundertsten Mal der Beginn des Ersten Weltkriegs, am 1. September begann vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg. Am 18. September wird des Wiener Kongresses gedacht, der vor 200 Jahren seinen Auftakt hatte, und schließlich am 9. November ist es 25 Jahre her, dass die Berliner Mauer fiel und die Teilung Europas überwunden wurde. Doch bei dem vielen Europa, das in diesen vier Gedenktagen mitschwingt, zeigt sich, wie unterschiedlich sich die Europäer diesen Tagen nähern und wie sehr nationales Andenken kontinentale Solidarität überwiegt. Während Frankreich vor allem an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnert, verdrängen Deutsche diesen bisweilen und konzentrieren sich voll und ganz auf den Mauerfall. Grenzenloser Jubel inklusive.

Frankreich plant Großes. Schon vor zwei Jahren wurde in Paris die öffentliche Interessensvereinigung Mission du Centenaire de la Première Guerre mondiale gegründet. In ihr befassen sich immerhin sieben Ministerien, zahlreiche öffentliche Einrichtungen und Vereinigungen, aber auch Gebietskörperschaften mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Es wurde sogar ein spezielles 100-Jahre-Logolabel geschaffen, mit dem Veranstaltungen als besonders wertvolles Gedenken ausgezeichnet werden, in das offizielle Programm aufgenommen werden und in den kommenden vier Jahren an den Krieg erinnern sollen. So viel marktschreiendes Gedenken überrascht östlich des Rheins doch sehr, wo man irgendwie weiß, dass sich der Beginn des Kriegs im Sommer zum einhundertsten Mal jährt, aber man mit dem Tag nicht richtig umzugehen weiß. Denn dies bedeutet wiederum sich mit Verantwortung, Schuld und Sühne auseinandersetzen zu müssen und Pathos zu vermeiden. In beiden Staaten. Es bleiben stattdessen reflexhafte Abwehrhaltungen auf deutscher Seite, dass sich die Franzosen mit dem historischen Sieg über das Deutsche Kaiserreich über ihre aktuelle wirtschaftliche Misere erheben müssen. Im Subtext heißt das: Okay, wir haben vielleicht damals den Krieg verloren – was allerdings auf militärischer Ebene noch immer nicht so ganz bewiesen ist, wie viele Deutsche glauben – sind heute aber wirtschaftlich haushoch überlegen. Der Gegenvorwurf aus Frankreich an die deutsche Adresse: Geschichtsvergessenheit einer kleinen neben einer großen Nation. Die Jubelfeiern zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags sind schnell und gründlich vergessen.

Am 1. September gibt es ähnliche Unstimmigkeiten mit Deutschlands östlichem Nachbar. Polen wird den 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs in einer anderen Wahrnehmung, in einer anderen Erinnerung begehen als Deutsche. Die konzentrieren sich dieser Tage lieber auf Hitlers Hunde, Hitlers Frauen und Hitlers Nachspeisen. Das Fernsehprogramm überschlägt sich allwöchentlich in der telegenen Aufarbeitung des Nazi-Diktators – nicht der Diktatur. Das Amüsieren über die bizarre Banalität Hitlers macht für viele Deutsche die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich leichter, sehr viel leichter. Eine Fernsehsendung über Hitlers Blumen ersetzt zudem bei vielen das Wissen etwa um den Beginn und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Zu gerne werden in Deutschland Ausreden gebraucht: Der Zweite Weltkrieg sei Folge des Friedensschlusses des Ersten. Wohl auch. Aber nicht nur!

Europa steht ratlos in der Ecke. Ein gemeinsames Erinnern an geschichtliche Momente, die das Schicksal und den Weg des Kontinents bestimmen, gibt es nicht. Und wird auch nicht geschaffen, gerade in dem Ausmaß, wie man sich einer gemeinsamen europäischen Identität verweigert. Es gibt einen Pass, der eine gemeinsame Unionsbürgerschaft suggeriert, einen Schengen-Raum, der das Reisen leichter macht, und Schlagbäume, die zum Wohle der Wirtschaft abgeholzt wurden, aber mehr auch nicht. Die Erinnerung wird den einzelnen Staaten überlassen, die ihre nationalstaatliche Interpretation der Geschichte fortschreiben, dabei Trennendes, eigene Traumata und Grenzziehungen betonen. Oftmals überbewerten.

Gerade in den Gedenktagen des Jahres 2014 zeigt sich die Unzulänglichkeit Europas, das sich immer mehr als Wohlstandsbewahrungs- und Wohlstandsvermehrungskonstrukt versteht. Denn als Kontinent, den seine Geschichte mehr eint, denn trennt. Denn als Union, die die Nationalstaatlichkeit ihrer Teile keineswegs abgelegt oder überwunden hat. Denn als solidarisches Projekt, das gemeinsam Lehren aus der Geschichte zieht und daraus ein europäisches Wir-Gefühl schafft, was auch zur Überwindung der aktuellen Euro-Krise beitragen könnte. In dem Grad, in dem die Ökonomien der europäischen Staaten – als Mitglieder der Europäischen Union – miteinander verwoben sind, müssen auch die politischen und zivilgesellschaftlichen Sphären nachziehen. Der gemeinsame Blick auf historische Ereignisse schafft dieses Verständnis. Einen Anfang bietet dabei der Fall des Eisernen Vorhangs, der einst West- und Osteuropa teilte, als historischer Moment. Festgemacht an dem Tag, an dem Ungarn die Grenzzäune abbaute, um auch deutsche Nabelschau zur Seite zu schieben. Die bei dem friedlichen Zusammenbruch Osteuropas gesammelten Erfahrungen schaffen ein europäisches Verständnis von Geschichte und ein Set an geteilten Werten.

Wenn jedoch Europa bei der Geschichtsbewältigung keine Handreichung bietet, bleiben immerhin noch die Vereinten Nationen. Diese halten sich mit Tagen nicht weiter auf und haben dem Jahr gleich drei Bedeutungen übergestülpt: 2014 ist das internationale Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft, der Kristallographie und der kleinen Inselentwicklungsstaaten. Da werden sich auch europäische Gemeinsamkeiten finden lassen.

Martin Theobald
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