Chem-Direktor René Metz will das Ëmweltklinik-Projekt torpedieren. Hat er vernünftige Gründe?

Tech-Voodoo

d'Lëtzebuerger Land du 18.02.2022

Jean Huss ist überzeugt: Die elf Plomben in seinen Zähnen haben ihn vergiftet. Das war in den 1980er Jahren. Auf das Quecksilber seien seine damalige Konzentrationsschwäche und Herzkreislauf-Erkrankung zurückzuführen gewesen. Er ließ sich seine Amalgamfüllungen entfernen und ist seitdem gesund. Mit Gleichgesinnten gründet der damalige Grünen-Abgeordnete die Aktionsgruppe für Umwelttoxikologie (Akut). Zunächst fungieren sie als Selbsthilfegruppe, doch schon bald wird es konkreter … und politischer: 1994 entsteht eine Umweltambulanz und 2009 schafft es das Vorhaben, eine Umweltklinik zu gründen, erstmals ins Regierungsprogramm. 2018 wird überdies von der Regierung auf Anregung von Akut eine stationäre Behandlung in Clean-Rooms vorgesehen. Clean-Rooms sollen Personen vor elektromagnetischen Strahlen (umgangssprachlich: Elektrosmog) und jeglichen Chemikalien schützen. Anfang Februar 2022 aber kündigte Chem-Generaldirektor Dr. René Metz eine Straffung des Projektes an: Er wolle Umweltpatienten nur noch ambulant versorgen. Gegenüber RTL sagt er: „Es sind nicht Krankenhausbetten, die wir brauchen, sondern Kompetenz und Forschung“.

Akut ist enttäuscht. Für Jean Huss sollten Betroffene sich in Clean-Rooms erholen dürfen. Bei schwerwiegenden Umwelterkrankten handele es sich um Menschen, die keinen normalen Alltag bewältigen können und häufig sozial isoliert leben. „Auf unserer letzten Akut-Versammlung musste eine junge Frau nach 20 Minuten wegen Kopfschmerzen den Raum verlassen – so sensibel sind diese Menschen“, erläutert der ehemalige Grünen-Politiker gegenüber dem Land. Während Personen in Clean-Rooms untergebracht werden, könnte ihr Umfeld auf die Ursache ihres Leidens inspiziert werden, meint der Akut-Präsident. Seit 30 Jahren gingen bei Akut regelmäßig Anfragen von Personen ein, denen schwindelig sei oder die Kopfschmerzen hätten, die durch Umweltfaktoren bedingt seien. Häufig seien diese Beschwerden durch Elektrosmog ausgelöst – kabellose Telefone, WLAN, Babyphones oder Hochspannungsleitungen. Auf ihrer Internetseite gibt Akut eine ganze Palette an möglichen Folgen von elektromagnetischen Strahlungen an: Schlafstörungen, Allergien, Depressionen, Herz- und Kreislaufstörungen, Gedächtnisschwund oder Krebs – all das könnten sie auslösen. Laut dem Jahresbericht von 2021 betreffen die häufigsten Fragen, die bei Akut eingehen, Elektrosmog. Anfragen zu 5G sind mit zwei Prozent separat aufgelistet.

Nur ist unklar, ob die Zusammenhänge, wie sie Akut schildert, tatsächlich bestehen. Zumindest was elektromagnetische Strahlungen betrifft, bezieht die WHO klar Position. Die Gesundheitsinstitution sieht nach Auswertung der derzeitigen Erkenntnisse nicht bestätigt, dass ein Kontakt mit schwachen elektromagnetischen Feldern gesundheitliche Folgen haben. Zu diesem Schluss kommt ein transdisziplinäres WHO-Team, das in den letzten 30 Jahren etwa 25 000 Artikel zu nicht ionisierender Strahlung auswertete, also Strahlungswerten, mit denen Alltagstechnologien verfahren. Mittlerweile ist dieses Gebiet somit umfangreicher erforscht, als das von unterschiedlichen Chemikalien. Im Alltag dürften Menschen demnach keinen Strahlungen ausgesetzt sein, die sie nachweisbar schädigen. Hinter Elektrosmog-Beschwerden sind Attributions-Fehlschlüsse nicht auszuschließen – eine Art zeitgenössischer Hokuspokus. Befürchtungen vor Strahlen, die von Antennen, Handys oder Routern ausgehen, könnte man als säkulare Geister-Erzählung deuten.

Doch die Umweltmedizin begrenzt sich nicht auf Elektrosmog. Roby Thill, Allgemeinmediziner und einer von drei praktizierenden Umweltärzten in Luxemburg, schildert einen Fächer an möglichen Umweltursachen, die auf Patienten einwirken könnten: „Meine Anamnese bezieht sich zuvorderst auf multiple Chemikaliensensibilität: Reagieren Menschen etwa auf Gifte in ihrer Zahnfüllung oder Schwermetalle in ihrer Ernährung? Oder auf Radon, ein radioaktives Gas, das sich in schlecht belüfteten Innenräumen anstauen kann und in Zusammenhang mit Lungenkrebs gebracht wird?“. Das klingt zunächst plausibel. Und der Beschwerdekomplex „Multiple Chemikaliensensibilität” wird anders als Elektrosensibilität vom deutschen Umweltbundesamt weiterhin beobachtet. Aber auch in diesem Bereich bleibt die Studienlage dünn, wie das Bundesamt selbst einräumt. Das Robert Koch-Institut veranlasste eine Reihe an Auswertungen, die die Mechanismen zur Krankheitsentstehung von multipler Chemikaliensensibilität aufschlüsseln sollten, dabei wird vermutet, dass immunologische Störungen oder Veränderungen von psychologischen und neurologischen Aspekten beteiligt sein müssten. Allerdings waren die Zusammenhänge wissenschaftlich nicht zu begründen und es bleibt unklar, welche Ursachen zur Entstehung dieses Beschwerdebildes beitragen. Um Ursachen-Wirkungsketten von krankheitsauslösenden Umweltzusammenhängen nachzugehen, bedarf es weiteren Langzeitstudien mit einer hohen Teilnehmerinnenzahl. Die Betroffenen sind, wie es Roby Thill erläutert, überdies in der Regel chronisch krank und weisen kein einheitliches Krankheitsbild auf, weshalb sich überdies die Frage stellt, ob es sich bei multipler Chemikaliensensibilität überhaupt um eine eigenständige Diagnose handeln kann.

Dass ein umbrella-term wie „Umweltmedizin“, die Tür für ein hochspekulatives Analyse- und Therapiekarusell öffnen kann, war dem LSAP-Minister Etienne Schneider bewusst. Auf Land-Anfrage antwortet der damalige Gesundheitsminister 2019, er wolle „Auswüchse vermeiden, wie sie im Ausland festgestellt wurden, wo von Ärzten mit wenig Skrupeln Diagnose- und Behandlungspraktiken verkauf twerden, die ohne wissenschaftliche Basis sind“. Und deshalb schloss der Minister eine private Finanzierung der Umweltmedizin nicht aus. Diese Positionierung war politisch gewagt, denn im Koalitionsvertrag 2018 wurde bereits festgehalten, dass ein nationaler Umweltmedizindienst etabliert werden soll, der sowohl ambulante als auch stationäre Behandlungen anbietet. Zudem soll laut Abkommen „die kostenlose Analyse von chemischen, mikrobiologischen und elektromagnetischen Schadstoffen nach ärztlicher Verschreibung“ zugesichert werden. Womöglich um ein politisches Zerwürfnis zu verhindern, erklärte LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert die Umweltmedizin vor zwei Wochen kurzerhand zur „Herzensangelegenheit“. Einen nationalen Dienst einzurichten, bedeutet überdies, dass die Solidargemeinschaft für unterschiedliche Leistungen aufkommen muss. Jahrelang verhandelte der Präsident des luxemburgischen Verbandes für Umweltmedizin, Roby Thill, erfolglos für CNS-Tarife. Diese Tarife stehen also nach wie vor aus. Ehe eine ernsthafte Diskussion darüber beginnen kann, müsste die Gesundheitsministerin die Umweltmedizin zunächst als eigenständige ärztliche Spezialisierung anerkennen.

Obwohl Akut viele Anfragen zu Elektrosmog bearbeitet, wäre es falsch, die Gruppierung auf Anti-Elektrosmog-Aktivismus zu reduzieren. Auf ihrer Internetpräsenz spricht die Aktionsgruppe Umweltbelastungen an, vor denen auch die Weltgesundheitsorganisation warnt, wie Feinstaub. Und über die schädlichen Auswirkungen von Bisphenol A informierte Akut ebenfalls schon länger. Die Substanz wurde 2017 von der Europäischen Chemikalienagentur aufgrund reproduktionstoxischer Konsequenzen auf den Menschen als besorgniserregender Stoff eingestuft. Ferner sind die Sorgen gegenüber mit Flammschutzmitteln beschichteten Möbeln, und Geräten, sowie Asbest in Innenräumen wissenschaftlicher Konsens. Akut ist folglich eher ein Beispiel dafür, dass sich bei politischen Gruppierungen gelegentlich Hinweise auf belegte Gefahren, neben legitimer Skepsis und Unsinn aufgelistet befinden.

Somit wirft der Fall die Frage auf, welche Leitplanken zivilgesellschaftlicher Arbeit dienlich sein könnten. Die Philosophin Lisa Herzog beschäftigt diese Frage. Sie plädiert in einem Zeit-Artikel für eine engere Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft. So könnten einerseits das Erfahrungswissen von NGOs und berechtigte gesellschaftspolitische Anliegen die Forschung bereichern, andererseits würden wissenschaftliche Institutionen näher an die Gesellschaft rücken: Das stärkt langfristig das gesellschaftliche Vertrauen in wissenschaftliche Akteurinnen und das Wissen über Forschungsverfahren. Und dies demokratisiere auch die Debatte, in der ausgehandelt wird, in welchen Bereichen eine Gesellschaft Wissen produzieren möchte.

Um der Kraut- und Rüben-Politik von Akut nun Einhalt zu gebieten, hat der jetzige Chem-Direktor René Metz an die Spitze der umweltmedizinischen Beratungsstelle die Epidemiologin An Van Nieuwenhuyse plaziert. Die Professorin am nationalen Gesundheitslaboratirum hat an fast hundert Publikationen mitgewirkt, deren Inhalt sich mit toxikologischen Auswirkungen unterschiedlicher Substanzen und Public-Health Schwerpunkten befasst. Das Chem nimmt demnach Umweltgifte zu Recht ernst, will deren Gefahren jedoch wissenschaftlich für die breite Gesellschaft diskutieren und nicht Individualfälle in Clean-Rooms stecken, deren Leiden möglicherweise auf keine fundierte Ursache-Wirkungskette zurückzuverfolgen ist und die in diesen Räumlichkeiten vielleicht nicht über den Placebo-Effekt hinaus therapiert werden.

Weder die Regierungsparteien, noch die Opposition sind von der Neuausrichtung der Umweltmedizin begeistert. Der ADR-Abgeordnete Jeff Engelen fordert, dass Elektrosmog-Gefahren untersucht werden; stellt sich hinter die Forderungen von Akut und wirft dem Chem-Direktor einen Bruch mit dem Koalitionsabkommen vor. Nathalie Oberweis von déi Lénk twittert ihrerseits, René Metz wäre die falsche Person, um das Projekt zu betreuen. Und Akut bastelt derweil an einer Broschüre, um politischen Druck aufzubauen und zu seinen versprochenen Krankenhausbetten zu kommen. Ein Blick in den Gesetzentwurf zur Planung des Krankenhauswesens von 2016 hätte der Regierung die Clean-Rooms-Zauberei allerdings ersparen können. Dieser wies darauf hin, dass ein nationaler Dienst für Umweltmedizin hauptsächlich ambulant verfahren soll; denn einen konkreten Bedarf an Krankenhausstrukturen ließe sich weder aus nationalen noch aus internationalen Daten erschließen – damit aber eine Behandlung erstattet werden kann, muss sie laut Sozialversicherungsgesetz auf erforschten Methoden beruhen. Man ahnt es: Neben dem Analysen- und Therapiekarussell der Umweltpatienten, werden in den kommenden Jahren auch die politischen Verhandlungen noch ein paar Runden drehen.

Stéphanie Majerus
© 2023 d’Lëtzebuerger Land