Verfassungsrevision

rechtsStaat

d'Lëtzebuerger Land du 23.04.2009

Altersweise CSV-Parlamentarier vererben sich wie Schamanenwissen die Obhut der Staatsverfassung und ihren Schutz vor unliebsamen Veränderungen. Paul-Henri Meyers, der die Verantwortung aus den Händen von Georges Margue übernommen hat, reichte am Dienstag als Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für die Institutionen und Verfassungsrevision einen Vorschlag zur Revision und Neuordnung der Verfassung ein. Bis auf einige Vorbehalte zur Bedienung ihrer antiklerikal oder nationalistisch gesinnten Wahlklientel tragen sämtliche Parteien den Textvorschlag mit.

Meyers meinte, dass es sich um die erste Gesamtrevision der Verfassung seit 1868 handele. Noch vor zehn Jahren hatte der heutige CSV-Vorsitzende François Biltgen vor einer Gesamtrevi­sion als unverantwortlichem „Abenteuer“ gewarnt. Sie wurde, trotz der entsprechenden Abmachung im Koalitionsabkommen von CSV und DP, dann auch nicht vorgenommen.

Nun soll der Rechtstext aus dem 19. Jahrhundert doch noch an die Praxis des modernen Rechtsstaats angepasst und dabei vor allem die Gewaltentrennung klarer gezogen werden, wie ­Meyers betonte. Folglich drängen sich die beiden Fragen auf, weshalb der Rechtsstaat sich so lange in einer überholten Verfassung aus dem 19. Jahrhundert behaglich fühlte und weshalb die Gewaltentrennung nun plötzlich klarer gezogen gehört. Vielleicht weil der Starke keine feste Rechtsnorm braucht, die bloß den Schwachen schützt. Der antiquierte Verfassungstext konnte also von den christlichsozialen Verfassungshütern nach Belieben so ausgelegt werden, wie es ihnen politisch gerade ins Konzept passte.

Doch vielleicht beruht das alles auch nur auf Missverständnissen. Im 19. Jahrhundert bezeichnete der Begriff des „Rechtsstaats“ nämlich oft etwas Anderes als heute, einen dritten Weg zwischen autoritärer Monarchie und Volkssouveränität, so wie die christliche Soziallehre der dritte Weg zwischen Liberalismus und Sozialismus sein will. Das mag eine „gemäßigt“ ­demokratische Staatsform gewesen sein, von deren Ideal sich mancher CSV-Patriarch nur schwerlich trennen konnte.

Andererseits führt eine flüchtige Lektüre Montesquieus häufig zur Verwechslung von Gewaltentrennung und Gewaltenteilung. So lange aber die Gewaltentrennung noch Interpreta­tionssache ist, wie gestern das Procola-Urteil und heute die Rebellion des Großherzogs zeigen, braucht die Gewaltenteilung noch gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt zu werden. Das arrangiert die Regierung auch deshalb, weil die Verfassung zuerst ein Gesetz ist, das die gesetzgebende Gewalt bremst.

Doch das scheint nun alles nicht mehr zufriedenstellend zu funktionieren. Zum einen droht ein obrigkeitsstaatlicher Verfassungstext aus dem 19. Jahrhundert, das Ansehen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu beschädigen. Denn dadurch läuft es Gefahr, auch noch auf eine graue Liste der Halb- und Scheindemokratien zu kommen. Zum anderen beschränkt sich das 1996 geschaffene Verfassungsgericht meist auf eine fundamentalistisch wörtliche und damit  für Regierung und Parlament riskante Auslegung der angeblich nur allegorisch zu verstehenden Verfassung.

Spätestens seit der Verfassungskrise vom Ende letzten Jahres haben zudem sämtliche Parteien den Großherzog als unberechenbar eingestuft. Sie wollen der Monarchie nun alle Mittel nehmen, mit der sie ihnen noch einmal ins politische Handwerk pfuschen könnte. Also wurde die Verfassung lange genug interpretiert, es kommt nun darauf an, sie zu verändern. 

Romain Hilgert
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