Theater

Brüderlichkeit oder Gemetzel

d'Lëtzebuerger Land vom 09.03.2018

„Alle Menschen sind Brüder! Wir müssen uns vertragen“, schreit Catherine aus vollem Hals, und man sieht ihr an, dass sie an das glaubt, das sie ihren Kollegen da entgegenbrüllt. Sie ist zwar zierlich und jung, an ihr ist deutlich ein Junge verloren gegangen, aber sie hat schon alles gesehen: die ewige Dunkelheit der Mine, die Schlagwetterexplosionen und die Einbrüche der Befestigungen, den Überlebensdrang der Arbeiter, die viel zu jungen Opfer der Ausbeutung, den gewalttätigen Geliebten, die gnadenlose Familie, die jedes Kind nur als zusätzliche Arbeitskraft sieht... Doch sie wurde auch von Étienne Lantier geliebt, einem Maschinisten, der in der gleichen Mine arbeitet wie Catherine und der, vom Sozialismus begeistert, zum Anführer einer Arbeiterbewegung wird, die versucht, durch einen Streik bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Diese Liebe, wenn auch bloß platonisch, und ihre Bewunderung für Lantiers Werte, wie Solidarität und Brüderlichkeit, beflügeln auch Catherine, spornen sie zu diesem Aufschrei an.

Catherine und Étienne sind die Hauptfiguren von Germinal, Emil Zolas bedrückendstem Roman aus der zwanzigteiligen Serie der Rougon-Macquart, die der belgische Regisseur Luk Perceval, künstlerischer Leiter des Thalia Theaters in Hamburg (er wird nächste Saison zusammen mit Milo Rau ans NT Gent überwechseln) zu seinem Mammutprojekt, Trilogie meiner Familie, zusammengebracht hat. Catherine und Étienne werden gespielt von der Luxemburgerin Marie Jung und von Sebastian Rudolph im letzten Teil der Trilogie, Hunger. Seit 2015 wurde jeweils ein Teil der Trilogie im Sommer an der Ruhrtriennale produziert und anschließend am Thalia Theater in Hamburg gespielt. 2017 dann bot Perceval sowohl in der Industriekulisse in Duisburg, wie auch am Thalia die Möglichkeit, sich die neun Stunden Theater am Stück anzusehen. „Man fühlt sich anders wenn man reingeht, als wenn man rauskommt“, verspricht der Regisseur in einem Werbevideo auf Youtube. Perceval, dessen Inszenierung von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues unter dem Titel Front vor drei Jahren auf Limpertsberg gastierte, ist am Sonntag mit dieser Ausnahmeproduktion in Luxemburg.

Und man sollte sie auf keinen Fall verpassen! Denn Perceval bringt es fertig, die Romane dermaßen zu abstrahieren, dass sie noch heute aktuell erscheinen. Es geht um Macht, Gier, Geld, Armut, Überlebenskampf, Liebe und Hoffnung. Zur Abstraktion trägt auf jeden Fall die Bühne bei: Annette Kurz hat eine sehr schlichte hölzerne Welle in den Raum gebaut, an der die Schauspieler sich immer wieder messen müssen, sie zu erklimmen versuchen, darauf herumtoben, herunterrutschen. Einige Seile, die von der Decke baumeln, werden zur Schaukel oder zum Galgen. Begleitet werden die zwölf Ausnahmeschauspieler des Thalia-Ensembles in ihren naturalistischen Kleidern (Kostüme: Ilse Vandenbussche) von melancholischer Live-Musik.

Perceval verbindet in Hunger die Misere der Grubenarbeiter aus Germinal mit den in La bête humaine erzählten Mordgelüsten von Etiennes Bruder Jacques Lantier (Rafael Stachowiak) und dessen Liebesgeschichte mit Séverine (Patrycia Ziolowska), webt die beiden Erzählstränge eng ineinander. Mehr noch als der erste Teil, Liebe (d’Land vom 25.03.2016), offenbart sich hier
Zolas düstere Sicht der Menschheit, die nur durch Brüderlichkeit überleben kann. Die wunderbare Barbara Nüsse als Großvater verkündet den seinen und der Welt Unheil; Gabriela Maria Schmeide begleitet die Stimmung mit furchterregenden Schreien. Germinal erschien 1885, 18 Jahre nach Marx‘ Kapital und 37 Jahre nach seinem Kommunistischen Manifest. Zolas Gegner schimpften ihn einen Sozialisten.

Der Zola-Marathon – Trilogie meiner Familie von Luk Perceval, nach der Romanserie der Rougon-Macquart, wird am Sonntag, dem 11. März im Grand Théâtre aufgeführt. Die Stücke Liebe (11 Uhr), Geld (14 Uhr) und Hunger (17 Uhr) können einzeln oder zusammen angeschaut werden. Während der Pausen bietet das Theater Getränke, Verpflegung und Unterhaltung an; www.theatres.lu.

josée hansen
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