Lissabon-Vertrag

Verfassungsersatz

d'Lëtzebuerger Land vom 05.11.2009

Fast zeitgleich mit dem Jahrestag des Falls der Berliner Mauer konnte nach jahrelangem Gefeilsche die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon abgeschlossen werden. Das eine hilft, das andere zu verstehen. Denn durch die aus wirtschafts- und militärstrategischen Gründen überstürzte Erweiterung der Europäischen Union nach Osten drohten ihre Institutionen überfordert zu werden, legte die EU ein weiteres Stück auf dem Weg von einem kohärenten politischen Projekt zu einem unübersichtlichen Kompromiss zurück.

Das zeigte sich in Donald Rumsfelds New Europe, wo es Politikern, wie zuletzt dem tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus, möglich wurde, die restliche Union zu erpressen. Das zeigte sich in Old Europe, wo große Teile und in manchen Ländern eine Mehrheit der Bevölkerung sowohl eine Erweiterung wie eine Vertiefung der Union ablehnen, wie Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland zeigten.

Was Anfang des Jahrzehnts, nach dem Abkommen von Nice, als großer Aufbruch geplant war, eine feierliche Verfassung für Europa, ergibt Ende des Jahrzehnts ein mit nicht immer ganz demokratischen Tricks durchgeboxtes Vertragsflickwerk –  wohl das letzte für lange Zeit. Es soll ein Maximum aus dem gescheiterten Verfassungsentwurf retten, ohne dass es jemand merken darf. Jedesmal, wenn trotzdem einer es merkte, bekam er schnell eine Extrawurst. Davon profitierte auch Luxemburg, denn so wurde beispielsweise „sein“ Brüsseler Kommissar gerettet. Und dass auch hierzulande die Begeisterung für die europäische Integration abgenommen hat, zeigten die 43 Prozent Wähler, die 2005 gegen den Verfassungsentwurf gestimmt hatten. Selbst der Vertrag von Lissabon wurde vergangenes Jahr nur lustlos von 47 der 60 Abgeordneten ratifiziert.

Die europäische Integration, die in den ersten Jahrzehnten als ein Projekt der Völkerverständigung, des wirtschaftlichen Aufschwungs und des sozialen Fortschritts wahrgenommen wurde, erscheint heute – trotz aller Errungenschaften, wie der Freizügigkeit und der gemeinsamen Währung – vielen Leuten als eine für ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen bedrohliche Variante der Globalisierung. Und die Politik der Kommission und des Europäi­schen Gerichtshofs sind nicht dazu angetan, diese Ängste zu beschwichtigen. So stellen, bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit, Nationalisten und Rechtsradikale seit Juni 18 Prozent der Straßburger Europaabgeordneten.

Um die Union von 27 Staaten mit teilweise widersprüchlichen Interessen funktionstüchtig zu erhalten, wird nun ab dem 1. Dezember das in internationalen Beziehungen übliche und aus den Pionierzeiten des Schumanplang und der sechs Gründerstaaten stammende Einstimmigkeitsprinzip für weitere Entscheidungen abgeschafft. Um dem neuen Nationalismus Rechnung zu tragen, wird der Einfluss der nationalen Parlamente wieder gestärkt und die Stimmengewichtung geändert. Und um gegenüber den Konkurrenten, von den USA bis China, sichtbarer zu werden, werden ein ständiger Ratsvorsitzender und ein hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik genannt.

Wie perfekt dieser ständige Ratsvorsitzende den Geist des Vertrags von Lissabon verkörpern soll, lässt sich daran erkennen, dass die Suche nach dem idealen Kandidaten inzwischen bei den konservativen Regierungschefs der kleinen Benelux-Staaten angelangt scheint. Sie sind kaum für die Rolle eines schillernden Präsidenten von Europa geeignet, aber dafür um so mehr für diejenige eines grauen Sachbearbeiters.

Romain Hilgert
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