Esch2022 steigt diese Woche in die Startlöcher, das Ferro Forum hat diese Etappe hinter sich. Das Kulturjahr ist für sie eine Gelegenheit, todgeweihte Industriekultur aufleben zu lassen

Schweiß für das kulturelle Erbe

d'Lëtzebuerger Land vom 25.02.2022

Wenn Do Demuth an ihre Kindheit zurückdenkt, sieht sie orange glühenden Abendhimmel. Sie wuchs gegenüber vom Differdinger Stahlwerk auf, die Rohre, Türme und Hallen vor den Augen. „Ich habe den Staub geatmet und gegessen“, sagt sie. Do Demuth sitzt am langen Tisch in der Küche, dem einzigen beheizten Raum der Zentralwerkstatt, trägt ein Tuch auf dem Kopf, darüber Arbeitshelm und Stirnlampe, orange Warnjacke. Wenn Do und der Rest vom Ferro Forum zur Arbeit in die Halle ausschwärmen, hängt in der Küche nur noch der Heilige Eligius über dem Kopfende an der Wand, Schutzpatron der Schmiede und Metallarbeiter, als untersetzter Mann mit langem Bart, eine Comic-artige Zeichnung aus der Feder von Misch Feinen. Er wollte eine Statue aufstellen, mit Kerzen und Kitsch. Solange er die nicht findet, wacht die Weihnachtsmann-Variante über seine Mitstreiter.

Jetzt isst Do Demuth wieder Staub. Viele Stunden pro Woche verbringt sie in der Brache des Stahlwerks Esch-Schifflingen, macht mittwochs und donnerstags Buchhaltung, räumt dienstags und samstags alte Sachen in Regale, die ihre Kollegen palettenweise anschleppen. Ihren Arbeitsplatz haben sie „Käfig“ getauft, von der Haupthalle durch Metallgitter abgetrennt. Hier sammeln sich Lumpen, rostige Werkzeuge, Schläuche und gesprungenes Geschirr in Regalen und auf dem Boden, es gibt noch kein Licht. Der Käfig ist das Zwischenlager, Do sorgt hier für Ordnung.

Do Demuth ist Innenarchitektin, doch ihr Wunsch ist, in Zukunft nur noch fürs Ferro Forum zu arbeiten. Ob es irgendwann so weit sein wird, ist ungewiss. Auch ob das Ferro Forum hier am Stadtrand von Esch bleiben kann. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen, zwischen 13 und 73 Jahre alt, fahren jeden Dienstagnachmittag vom Eingangstor am Parkplatz in Lallingen über das Gelände, durch riesige Lagerhallen, deren Schlaglöcher das Brackwasser zu beiden Seiten wegspritzen lassen. Auf dem Rückweg sind ihre Scheinwerfer die einzigen Lichtquellen. Oft arbeiten sie bis 22 Uhr, sortieren, räumen, schweißen, planen. Die Zeit drängt. Am 29. April öffnet die Zentralwerkstatt für Besucher. Bis dahin soll der selbstgebaute Hochofen funktionstüchtig sein, die Werkstätten demonstrationsfähig, das Materialarchiv gebaut. Wo heute noch rostige Haken rumliegen und improvisierte Kabelkonstruktionen für Strom sorgen, muss dann Sicherheit gewährleistet sein.

Jeden Monat will das Ferro Forum Besucher mit Veranstaltungen, Workshops und Festen herlocken, eine Buvette soll sie verköstigen. Esch2022 ist eine einmalige Gelegenheit. „Wir müssen zeigen, dass wir es wert sind zu bleiben“, sagt Misch Feinen, Initiator der ASBL. Als Künstler beschäftigt er sich seit vielen Jahren mit Metall. 2020 hat er das Ferro Forum gegründet und sofort Mitstreiter begeistert, von denen heute, zwei Jahre später, viele noch jede Woche Stunden aufbringen, um das industrielle Erbe der Region aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Vor acht Jahren war Feinen das erste Mal auf dem Gelände, dort sollte ein Kunstprojekt entstehen, doch Sicherheitsbedenken ließen die Idee nicht keimen. In Feinens Kopf aber hatte sich der Ort eingebrannt. Einige Jahre später ließ ihn der damalige Eigentümer Arcelor-Mittal dort Gegenstände sammeln, um sie zum DKollektiv nach Düdelingen zu bringen. Nach ihrem Vorbild schließlich sollte Ferro Forum entstehen, auf Metall spezialisiert, und zwar hier. „Es gab keine 15 anderen Orte mehr. In Düdelingen wurde schon vor 30 Jahren viel abgerissen, Terre Rouges wird urbanisiert, nur noch ein paar Hallen stehen am Kreisverkehr Richtung Audun-le-Tiche“, sagt Misch Feinen. „Aber in den letzten Jahren ist die Bausubstanz sehr schnell degradiert. In Belval und Differdingen ist alles genutzt oder vermietet, da ist kein Platz.“ Ob das Ferro Forum hier inmitten des geplanten Neubauviertels langfristig Platz haben wird, ist fraglich. Die Agora ist Eigentümer der 61 Hektar großen Fabrikbrache, die Pläne sehen Wohnhäuser direkt neben der Zentralwerkstatt vor.

Solange die Neubauten nur auf Papier stehen, lässt der 13-jährige Nello Funken fliegen, hingebungsvoll, als wäre das Schweißgerät mit ihm im Mutterleib gewachsen. Er ist der Jüngste der Gruppe, trägt Gesichtsschutz und baut mit den anderen im hinteren Teil der Werkstatt einen Abzugsschacht für den Hochofen. Es ist kalt, es riecht nach Staub und Metall, die Deckenlampen, die sie hier installieren konnten, tauchen die Rostfarben in oranges Licht.

Der Älteste ist Heng. Er trägt die Ausbeute eines Rundgangs auf dem Gelände in die Halle, einen blauen Sack voller Kram, die andere wohl unter Schrott einordnen würden. Schleifpapier, eine alte Tasse, Fackel, Keilriemen, mehr Schleifpapier. Heng hat im Obergeschoss dieser Werkstatt seine Lehre gemacht und war sein Leben lang als Schlosser im Walzwerk in Belval. Er arbeitet gemeinsam mit seinem Sohn Serge Molitor das Erbe der eigenen Familie auf. Serge sagt: „Irgendwann gibt es das sonst nicht mehr. Dann steht da nur noch ein Schild, das sagt: Hier stand hier mal etwas. In Belval hat man sein Bestes gegeben, aber wir, die da gearbeitet haben, hätten uns gewünscht, dass es urtümlicher bleibt.“ Er erinnert: „Diese Industrie hat maßgeblich zur wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes beigetragen. Irgendwann kamen die Banken, und das gerät in Vergessenheit. Mir liegt sehr daran, dass etwas von dieser Geschichte bleibt.“

Serge Molitor wurde in der Lehrwerkstatt Belval zum Elektromechaniker ausgebildet, arbeitete nur sechs Monate im Stahlwerk, wurde dann Gewerkschafter und Sicherheitsbeauftragter. Schon zwei Jahre später wechselte er von der Stahlindustrie ins Erziehungswesen. „Aber ich habe das in guter Erinnerung“, sagt er: „die Kollegialität, das Miteinander, die Ehrlichkeit der Leute, das Geradeheraus, das hat mir gut gefallen, und das finde ich heute hier wieder.“

Misch Feinen hat eine gute Nase, wenn es darum geht, engagierte Leute zu rekrutieren. Do Demuth sagt: „Wir ziehen an einem Strang und das trägt diese ganze Energie. Diese Ungewissheit ist nicht zu tragen, wenn man nicht so ein zusammengeschweißtes Team hat.“ Seit 20 Jahren arbeitet sie freiberuflich und allein. „Das hat mir immer Spaß gemacht, aber so langsam habe ich es satt. Hier ist eine Dynamik, die nur in einer Gruppe entstehen kann.“ Demuth war von Anfang an dabei. Ihr Vater hinterließ zwei Autoladungen voller Unterlagen. Er war Ingenieur und Metallurg für die Arbed. Fachbücher, Literatur zu Stahlhütten, Berichte, Telefonbücher mit allen Namen seiner beruflichen Kontakte, Pläne, Fotos, Negative. „Er war ein Sammler, hat in Differdingen Sachen gerettet, die in die Mülltonne sollten.“ Do Demuth karrte das alles zu Misch Feinen nach Düdelingen, und schon war sie in seinen Fängen, bekam die undankbare Rolle der Sekretärin. Naja, dachte sie, und fand so viel Gefallen daran, dass sie ihren Architektenjob dafür aufgeben würde. Kommunikation, To-Do-Listen, Partnerschaften und schließlich auch sehr praktische Aufgaben wie die Ressourcerie im Käfig.

Einige Teile des Materials finden in der Werkstatt ihren Platz, andere für zukünftige Kunstprojekte und Theaterstücke. Objekte wie Hengs Fundstück, die Tasse, haben einen besonderen Wert: Sie werden in Zukunft Teil des Materialarchivs, eine Art Museum, wo alles Urtümliche aufbewahrt wird, selbst gemachte Hammer, Geschirr, das die Arbeiter selbst produziert haben, Unikate. Dafür ist Birgit Thalau zuständig. Sie hat mit der Stahlindustrie keine Verbindung außerhalb des Ferro Forums. „Ich komme aus der Stadt“, sagt sie. „Ich finde es schön, hier einen Beitrag zu leisten und meine Erfahrung einzubringen.“ Thalau ist Goldschmiedin, mit Feuer und Metall kennt sie sich aus, aber eben in einer viel kleineren Dimension. Sie ist fasziniert von den Geschichten, die die Gegenstände erzählen, von dem Leben der Arbeiter, „eine Gesellschaft in der Gesellschaft“, sagt sie. „Die Arbeiter kamen von überall, teilten ihre Rituale miteinander.“ Das Ferro Forum stellt diese Nostalgie in den Vordergrund, spielt mit der Industrieromantik, die ihnen bisher schon einige Neugierige beschert hat. Im vergangenen Jahr öffneten sie zum ersten Mal die Türen für Führungen. Die „Industrial Peep-Show“ warb mit Kitsch und Vintage und war ausgebucht.

Doch Do Demuth weiß, dass das eine verklärte Sicht ist. Obwohl sie selbst diese starke Verbundenheit spürt, sagt sie: „Es war Knochenarbeit, viele sind dabei verunglückt. Es kann nicht sein, dass wir das als zweite oder dritte Generation schönreden, wir, die nie diese Härte erlebt haben.“ Ihr Vater war in die Fußstapfen ihres Großvaters getreten. Er wäre gern Zuckerbäcker geworden, studierte aber Chemie stieg als Ingenieur in die Arbed ein. „Er hat sein Leben lang nicht gern für die Arbed gearbeitet. Er hat darunter gelitten, obwohl er eine höhere Position hatte. Das haben wir als Familie auch mitbekommen.“ Nach seiner Pensionierung habe er doch noch das Backen angefangen. Ihren Opa hat sie nicht kennengelernt. Ihn schickte die Arbed nach Brasilien, um dort das Walzwerk mit aufzubauen, dort ist er mit 50 an einem Lungenkrebs gestorben.

Dennoch kann auch Do Demuth sich nicht von der Arbed losreißen, ist von Differdingen nach Schifflingen gezogen, gleich hinter den grünen Turm. „Das ist diese Hassliebe“, sagt sie. Auch ihr Leben ist von der Stahlindustrie geprägt. „Ich mag die Ästhetik. Da ist so viel Seele drin, die suche ich in meinen Projekten immer. Ich versuche, die Seele der alten Häuser aufzudecken. Hier ist alles im Saft, die Patina stimmt, alles ist noch original, wir können hier so viel retten, wenn wir einen Einfluss darauf bekommen.“ Die Komplexität der Werke fasziniert sie. „Diese ganzen Rohre, die da rumlaufen, die absolut nicht zu verstehen sind, weil man das Ganze nicht gezeichnet hat und keine Ahnung hat, wie so ein Werk überhaupt funktioniert.“

Auch dieses Wissen wollen sie aufarbeiten, das technische Knowhow weitergeben in Workshops. Birgit Thalau und Misch Feinen nehmen für das Archiv die Geschichten derer auf, die diese Arbeit einst erledigten. Denn selbst im Ferro Forum waren nur wenige selbst in den Werken tätig. „Mit jedem Ingenieur, mit jedem Arbeiter, der stirbt, verpufft eine ganze Geschichte, die Teil ist von unserem Erbe“, sagt Demuth.

Die Hoffnung, dass diese Ästhetik auch andere sehen, ist dem Ferro Forum ein Lichtblick. Das, was heute noch vom Werk in Düdelingen übrig ist, wurde zum Großteil als schützenswertes Denkmal anerkannt. Für Esch-Schifflingen geht das Ringen weiter, zwischen Agora und der Gemeinde Esch auf der einen Seite und der Commission des sites et monuments und dem nationalen Zentrum für Industriekultur (CNCI), dem auch Ferro Forum angehört, auf der anderen (d’Land, 18.02.2022). Das Ferro Forum kämpft dafür, unermüdlich, zwischen Dreck und Metallspänen, bis irgendwann genug Leute den Glanz unterm Rost sehen. Für die Zentralwerkstatt stehen die Chancen gut. Doch über jedem Funken, den Nello sprüht, jedem Keilriemen, den Heng in die Halle trägt, schwebt die Frage, inwieweit eine zugige Fabrikhalle neben neuen Wohnhäusern geduldet werden wird.

Franziska Peschel
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