Es weht ein neuer Wind am Hauptbahnhof. Das liegt nicht unbedingt am Mentalitätswechsel bei der CFL, sondern vor allem daran, dass es seit der Eröffnung der neuen Reisehalle zieht wie Hechtsuppe

Nächsten Halt: Lëtzebuerg!

d'Lëtzebuerger Land vom 04.01.2013

„Flang“. Es ist immer ein guter Start in den Tag, wenn einem früh morgens auf dem Weg zur Arbeit am hauptstädtischen Bahnhof eine der riesigen Flügeltüren mit voller Wucht entgegenschwingt. Das geschieht natürlich hauptsächlich dann, wenn man die Hände nicht frei hat, sie also nicht auffangen kann, und wegen der nachdrängenden Menschenmassen nicht zurückweichen kann, bevor das schwere Stück einem ins Gesicht schlägt. Das kann schmerzhaft werden, heißt aber immerhin, dass man überhaupt einen Ausgang gefunden hat, der nicht blockiert ist. Beispielsweise, weil es draußen regnet und diejenigen, die ihren Bus zur Weiterfahrt noch nicht erblickt haben, versuchen, unter dem Vordach im Trocknen zu bleiben, bis der Bus einfährt.
Dass im Hall des pas perdus, wie die alte Bahnhofshalle offiziell heißt, zu Spitzenstunden kein Durchkommen mehr ist – weil die Zahl der Zugfahrten und damit natürlich auch das Passagieraufkommen steigt, ist einer der Gründe, warum die CFL 2004 beschloss, den Hauptbahnhof zu modernisieren und zu renovieren. Im September 2012 konnte im Beisein des Großherzogs der neue Hall des voyageurs eingeweiht werden. Die Glaskonstruktion, vor den Südflügel des alten Bahnhofs gebaut, ist wie ein Querschiff über einen riesigen Bogen an den Kathedralen-ähnlichen Hauptbau angeschlossen. Seither hat sich die Lage verändert, dafür aber noch nicht wirklich verbessert. Denn merklich ist vor allem: Es zieht. So sehr, dass einem auch dann noch kalt ist, wenn man vor dem Bäckerei-Tresen dermaßen dicht gedrängt steht, dass man das Portmonnaie nicht aus der Tasche nehmen kann. Klassische Musik, wie sie in den vergangenen Monaten eingesetzt wurde, um Junkies und  Obdachlose zu vertreiben, ist nicht mehr notwendig. Drinnen wie draußen ist es kalt; der Bahnhof bietet einfach kein Obdach mehr.
Das ist vielleicht das Tragische an den Bemühungen der CFL. Rund 95 Millionen Euro haben die Maßnahmen gekostet, doch ob der Bahnhof dadurch benutzerfreundlicher oder insgesamt einladender geworden wirkt, ist nicht unbedingt gesagt. Sechs Jahre haben die Bauarbeiten zur Renovierung gedauert, während dener die Kunden vor harte Prüfungen gestellt wurden. Vor allem während der Erneuerung der bestehenden, nördlichen Unterführung zu den Bahnsteigen, der Erweiterung der Bahnsteige und dem Bau der neuen Unterführung am südlichen Ende der Bahnsteige.
Optimisten müssen anerkennend sagen, dass die CFL während der ganzen Zeit den Bahnbetrieb aufrecht hielt. Zyniker würden darauf allerdings antworten, dass es bei den vielen pannenbedingten Verspätungen, die es in den vergangenen Jahren gab, auch keinen merklichen Unterschied gemacht hätte, wenn man den Betrieb reduziert hätte. Baumaßnahmen und Verspätungen waren in jeden Fall eine Kombination, welche die Kundschaft vor eine besondere Herausforderung stellten: trocken zu bleiben. Mitunter knöcheltiefes Wasser in den Unterführungen ist wirklich keine Übertreibung, Ausweichmöglichkeiten gab es kaum, wenn auf dem Bahnsteig weder Platz zum Stehen war – weil dort gleichzeitig gearbeitet wurde – geschweige denn zum Unterstellen: Es gab kein Dach. Informationen über die Ursachen der Verspätung und wann es weitergehen würde, auch nicht. In Sachen Desinformationspolitik hätte die CFL Geheimdienstmitarbeiter schulen können. Nasse Füße und kein Zug in Sicht. Weshalb blieb meist ein Rätsel. Das waren keine guten Voraussetzungen für ein  harmonisches Verhältnis mit den Kunden.
Daran arbeitet die CFL, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Der Hall des voyageurs ist dafür ein gutes Beispiel. Er soll der Kundschaft Möglichkeit zum Ausweichen bieten, ist aber vor allem eins: leer. Bis auf die Mitarbeiter von CFL-Security, die dort in Springerstiefeln ihre Runden drehen. In ihren trostlosen schwarz-grauen Uniformen sorgen sie wie die zahlreichen Überwachungskameras dafür, dass auch wirklich kein Drogenabhängiger oder Obdachloser, die früher zum Bahnhofsbild gehörten, dort Unterschlupf sucht. Dass auch kaum Fahrgäste sich dort aufhalten, liegt momentan wahrscheinlich vor allem an der Eiseskälte, aber auch daran, dass es sonst keinen Grund zum Verweilen gibt. Es gibt keine Bank zum Sitzen, keinen Kiosk, kein Plakat zum Anschauen. In der alten Halle können eilige Bahnnutzer beim Durchgehen einen schnellen Bick auf die große Anzeigetafel werfen, um den Bahnsteig zu prüfen. Im Hall des voyageurs, in dem Rolltreppen in die südliche Bahnsteigunterführungen absteigen, sind die Bildschirme mit den Abfahrtsangaben so positioniert, dass sie weder von den Treppen, noch vom Lift aus – der liegt übrigens außerhalb der Halle selbst, was Rollstuhlfahrer bei Regen besonders begrüßen dürften – zu sehen sind.
Dafür gibt es insgesamt sieben verschiedene Tafeln mit allerlei Piktogrammen, welche Reisenden den Weg dahin zeigen sollen, wo sie hinwollen. Zu den verschiedenen Bahnsteigen, zur Gepäckaufbewahrung, zum Taxi-Stand, zur Informa­tion, zur Touristeninformation. Wer vorher nicht verwirrt war, ist es spätestens beim Blick hierauf. Denn zeigt eine Tafel den Weg zu den Gleisen vier bis zehn, muss man zur nächsten laufen, um zu erfahren, wo es zu den Gleisen eins bis drei geht. Nach der angeschlagenen Touristeninformation kann man lange suchen: es gibt sie überhaupt nicht mehr. Ob sich unerfahrenen Nutzern auf der Suche nach dem gewünschtem Bus und dem dazugehörigen Fahrsteig der Unterschied zwischen Bus urbains und régionaux von selbst erschließt? Oder ob sie mit den Fahrsteignummern doch besser bedient gewesen wären? Dass ein Großteil der mitunter kryptischen Piktogramme ausgestrichen sind, beispielsweise das Fahrrad-Parking-Piktogramm – die abschließbaren Boxen sind noch nicht installiert, die neue Gepäckaufbewahrung auch nicht –, aber nirgendwo steht, wie man ansonsten dorthin gelangt, mindert den Nutzen der Tafeln erheblich. So irren zwei junge asiatische Frauen eine halbe Stunde von einem Ende des Bahnhofs zum anderen, durch die Unterführungen und wieder hoch, erklären dazwischen erfolglos Passanten und CFL-Mitarbeitern, sie würden abends den Zug nach Brüssel nehmen und in der Zwischenzeit ihre Koffer abgeben, bevor sie endlich fündig werden.
Es entsteht der Eindruck: die Anlagen sind neu, die Gesinnung bei Teilen des Personals aber noch die alte: „wer nicht selber weiß, wo es hingeht, hat Pech gehabt“. Beispiele gefällig? In der alten Bahnhofshalle gibt es zwar einen Defilibrator und ganze neuen Aushängekästen. Nur einer der Kästen trägt die Überschrift „Horaires“. Darin zu sehen ist ein weißer Fahrplan. Wer nicht von Kindesbeinen an darauf geschult ist, dass die Abfahrtsfahrpläne der CFL auf gelbem Papier gedruckt werden, die Ankunftsfahrpläne dagegen in weiß, kann nicht wissen, dass er hier nicht erfährt, wann seine Bahn abfährt. Die Fahrplanüberschrift „Arrivée“ überdecken die Magneten, die den Fahrplan in der Box halten. Wer neu im System ist, hat das Nachsehen, steht dann entweder zur falschen Zeit am falschen Ort oder riecht Lunte und wendet sich vielleicht an einen der Bahnmitarbeiter. Viele von ihnen geben sich Mühe, zuvorkommend zu sein. Aber noch lange nicht alle.
Mit ihren neon-orangen Rucksäcken sind CFL-Mitarbeiter leicht zu identifizieren. Am Mittwochmorgen machen drei von ihnen Kaffee-und-Croissant-Pause bei Oberweis, als eine ältere Dame mit starkem deutschen Akzent sie in mühevollem Französisch anspricht. Sie erklärt, dass sie den Bus nach Metz nehmen wollte, der Bus an dem Fahrsteig, zu dem man sie geschickt habe, aber nach Kirchberg gefahren sei, dann könne es doch nicht der richtige Bus gewesen sein. Die CFL-Mitarbeiter nuscheln auf französisch und betont unbeteiligt in ihre Kaffeetassen, ob sie denn schon in der Mobilitätszentrale gewesen sei? Die Frau geht. Daraufhin sagt Bahnmitarbeiter eins: „Et mengt een, si missten all eenzel mat der Hand geholl gin.“ Darauf entgegnet Bahnmitarbeiter zwei, Kleidung und Rucksack nach zu urteilen, ein Zugführer: „D’leschte Kéier huet ee mech gefrot, wéini den Zuch géing ukommen, ma wouhier soll ech dat da wessen.“ Worauf Bahnmitarbeiter drei meint: „Dat eenzegt, wat ech well wëssen, ass wéini Feierowend ass.“ Eins und zwei pflichten ihm bei. Dabei hat er nur die halbe Wahrheit gesagt, denn wann Pause ist, ist ihm mindestens ebenso wichtig, wie wann Feierabend ist. Eine halbe Stunde später haben Bahnmitarbeiter eins, zwei und drei den nahtlosen Übergang von der Kaffee- in die Mittagspause geschafft und putzen im Buffet de la gare das Tagesmenü weg. Die ältere Dame irrt währenddessen noch verunsichert auf der Suche nach einer Transportmöglichkeit nach Metz um den Bahnhof, ist mittlerweile im Nordbereich angekommen.
Im Nordbereich wartet der Bahnhof mit weiteren Kuriositäten auf. Dem schick renovierten großherzoglichen Pavillon etwa, in dem es ein Café gibt, das morgens leider erst um zehn öffnet, und deswegen Kaffee to-go, auf einem Stand vor der Tür verkauft. Gleich gegenüber vom freistehenden Urinoir, einer runden Inox-Kabine just vor dem Durchgang auf Bahnsteig Nummer drei (auf den Wegweiser-Tafeln auf dem Bahnhofsvorplatz hat er sein eigenes Piktogramm), wo Männer gratis pullern dürfen, während der Toilettengang für Frauen drinnen 1,10 Euro kostet. Das Urinoir ist ein großer Erfolg. So groß, dass Passanten regelmäßig über ein kleines Rinnsal steigen müssen, das vom Urinoir aus auf die Parkplätze des Dépot-Minute läuft.
Zehn Parkplätze zählt das Dépot-Minute, wo man insgesamt eine halbe Stunde, davon eine Viertelstunde gratis, parken darf. Wer überzieht, beispielsweise weil er auf jemanden wartet, der mit den ewig verspäteten Zügen aus Brüssel eintrifft oder weil der Ticketkauf sich hinzieht, kriegt ein CFL-Knöllchen. Weil das nicht so günstig ist, hatte die CFL schon mal ein „Kiss&Rail“ entlang des Bahnhofsplatzes eingerichtet. Was zum Verkehrschaos führte, weil die städtischen Busse nicht an den Autos vorbei in ihre Fahrsteige eindrehen konnten. Deswegen ist das Kiss&Rail dort wieder abgeschafft, hier halten wieder Taxis (obwohl die Piktogramme Reisende quer über den südlichen Busbahnhof zum Taxi-Stand schicken). Das Kiss&Rail soll nun auf der Südseite des Vorplatzes, vor dem Hall des voyageurs entstehen. Alles ist vorbereitet. Doch genutzt werden kann das Kiss&Rail erst, wenn das dafür notwendige Verkehrsreglement mit der Zustimmung der Straßenbauverwaltung verabschiedet wird.
Vielleicht sollten sich Kunden aber gar nicht erst an diese neue Einteilung auf und rund um den Vorplatz gewöhnen. Denn ab 2014 wird es neue Baustellen geben. Dann werden die Arbeiten zum Bau der Tram beginnen. Und die soll ziemlich genau da halten, wo das neue Kiss&Rail vorgesehen ist. „Das muss dann abgeschafft werden“, sagt Michel Gobel, Direktor von Luxtram. Um Haltestelle und Gleis einzurichten, muss ein Teil des Parvis genutzt werden. Der schöne, just gelegte Naturstein, blau-grauer Crionidenkalk, auf dem Vorplatz wird in Teilen wieder weggrissen werden. Auch die eben erst komplett erneuerten Busbahnsteige für die regionalen Busse auf der Südseite werden weichen müssen. Denn für die Tram muss ein Weichenstellwerk gebaut werden, damit sie am Endpunkt der Linie das Gleis wechseln kann. Zwischen Bahnhofsgebäude und die neuen CFL-Parkhäuser soll das Stellwerk kommen. Ob man diese Anforderungen bei der Modernisierung des Bahnhofsgeländes, die aus dem Fonds du rail bezahlt wurden, nicht hätte berücksichtigen können? Die Baubranche wird sich über die neuen Aufträge freuen. Leidgeprüfte Fahrgäste werden für die Dauer der Baustelle die Gummistiefel aus dem Schrank holen.

Michèle Sinner
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