Am 21. Juni sollen Medienberichten zufolge 145 Personen in Frankreich während der Fête de la Musique mit einer Spritze gestochen worden sein. Zwei Tage später, am Nationalfeiertag, wurde auch der luxemburgischen Polizei ein entsprechender Fall gemeldet. Vergangene Woche sprach RTL mit dem mutmaßlichen Opfer. Die junge Restaurant-Praktikantin aus Frankreich möchte mit ihrer Geschichte auf das Phänomen aufmerksam machen. Hörbar unter Schock schildert sie, wie ein Mann auf dem Theaterplatz in Luxemburg-Stadt „hinter mir vorbeiging und mir in die Gesäßbacke stach“. An das Gesicht der Person kann sie sich nicht erinnern, nur daran, dass jemand in die Menschenmenge davonlief. In der Nacht selbst verspürte sie keine Symptome. Erst am folgenden Tag hatte sie Schmerzen entlang eines Beins, seit Anfang Juli leidet sie zudem unter Ischiasschmerzen. Am meisten jedoch fürchtet sie, mit HIV infiziert worden zu sein – ein belastbares Testergebnis wird erst in sechs Wochen vorliegen. Das Schlimmste sei, so die junge Frau, nicht zu wissen, „wo die Spritze war und ob etwas drin war“.
Seit 2021 wurden in Europa über 1 500 ähnliche Beschwerden wegen sogenanntem Needle Spiking gemeldet. Bisher kam es zu keinem einzigen positiven toxikologischen Befund – auch Beweismaterial wie Nadeln oder eindeutig identifizierbare Täter fehlen, wie mehrere große Medienhäuser berichteten. Das Universitätsspital Zürich gibt zudem zu bedenken, dass das intramuskuläre oder intravenöse Verabreichen sedierender Substanzen eine gewisse Handfertigkeit und Zeit erfordert. Und selbst bei kontaminierten Spritzen sei eine Ansteckungsgefahr gering. Zwei Redakteure der Zeit veröffentlichten Anfang Juli einen Bericht über das rezente Vorkommnis in Frankreich: Während ihrer Recherchen fanden sie keine Hinweise auf gezielte Aufrufe, junge Frauen mit Drogen oder HIV zu infizieren – wie es in Teilen der Berichterstattung hieß. Die von ihnen entdeckten Postings warnten vielmehr vor möglichen Angriffen. Nutzer/innen wurden dazu aufgerufen, sich auf Einstiche zu untersuchen und bei plötzlichem Schwindelgefühl misstrauisch zu werden. Viral ging auch ein TikTok-Video von einer Frau, die vermutet, „ein Unbekannter habe ihr auf dem Heimweg im Vorbeigehen eine Spritze in den Arm gerammt“. Dass viele Follower das Video teilen und akkreditierte Medien vor Needle Spiking warnten ist verständlich, denn Gewalt gegen Frauen existiert.
Aber auch kollektive Panik ist real. Schon 1913 kursierten Gerüchte über deutsche Migranten, die US-amerikanische Frauen unter Drogen setzen würden, um sie in Bordelle zu verschleppen, wie der Medizinsoziologe Robert Bartholomew vergangene Woche im Spiegel erläuterte. 1969 fürchtete man sich in Frankreich vor angeblichen Spritzen-Angriffen durch jüdische Männer auf Frauen. In den 1980er-Jahren kursierten schließlich Gerüchte über AIDS-Kranke, die verunreinigte Nadeln in Kinosesseln hinterließen. Laut Le Monde finden sich ähnliche Erzählungen auch in China: In den letzten 15 Jahren wurden dort über 500 Personen – mehrheitlich Uiguren – beschuldigt, Nadel-Attacken verübt zu haben. Auch in der Provinz Xinjiang konnte keine Substanz-Injektion nachgewiesen werden.
Ob die RTL-Gesprächspartnerin am Vorabend des Nationalfeiertags tatsächlich mit einer Spritze gestochen wurde, wird wohl nicht mehr aufgeklärt werden. Auf Nachfrage vom Land teilt die Pressestelle der Polizei mit, dass sich die Person am 23. Juni an sie gewandt habe, aber keine Anzeige gegen Unbekannt erstattet hat. RTL will vorerst weiter berichten und hat einen Aufruf gestartet, um mit weiteren mutmaßlich Betroffenen in Kontakt zu treten. Angesichts der bisherigen Erkenntnisse bleibt allerdings fraglich, ob dadurch nicht weiterhin möglicherweise unbegründete Ängste geschürt werden. Die Frage ist berechtigt, gerade weil Angst nachweislich Stress bewirkt und somatische Spuren hinterlassen kann.