Cyber-Mobbing

Kampfzone Netzwelt

d'Lëtzebuerger Land du 02.07.2009

Ein Schüler kommt eines Nachmittags mit Freunden vom Fußballtraining. Man beschließt, bei einem der Sportsfreunde zuhause noch einen gemeinsamen Computer-Chat über MSN, den Windows Messenger, zu führen. Schüler nutzen MSN zum Live-Chat gern. Erstens ist der Dienst kostenlos, zweitens nicht ganz öffentlich: Im Gegensatz zu großen Chat Rooms tauscht man sich nur mit „eingeladenen“ Personen aus. 

Der eingangs erwähnte Schüler meldet sich stellvertretend für die ganze Gruppe mit seinen Zugangsdaten an und stellt wenig später fest, dass sein bester Freund ebenfalls auf der Suche nach elektronischer Konversation ist. Mit diesem beginnen die Fußballer eine Plauderei. Schließlich jedoch beleidigen sie den Jungen, werden dabei immer hemmungsloser, und sie sagen später, dass dieses Erlebnis sie ungemein erregt habe.

Cyber-Bullying oder Cyber-Mobbing, vor allem unter Kindern und Jugendlichen, ist ein Phänomen, das ungefähr seit der Jahrtausendwende einerseits die Wissenschaft, andererseits Lehrer und Psychologen, aber auch Fachleute für Computersicherheit immer mehr interessiert. Was in die Erwachsenenwelt hinüber dringt über die Vorkommnisse im Cyberspace der Jugend, hört sich manchmal nach Dumme-Jungen-Streichen an. Etwa wenn jemand die Fotos, die ein Mitschüler auf seine selbst entwickelte Internet-Seite gestellt hat, retuschiert und mit Bärten und Brillen versieht. Verbreiten dagegen, wie hierzulande vor nicht allzu langer Zeit in zwei Fällen geschehen, Lyzeumsschüler per Internet und SMS über andere das Gerücht, zum bewaffneten Amoklauf in der Schule unterwegs zu sein, oder erhält ein Schüler per SMS immer wieder Morddrohungen, dann klingt das eher nach einem multimedialen Horrorladen.

Man könne sich schon fragen, „wie schlimm“ das alles ist, sagt Georges Steffgen, Psychologieprofessor an der Uni Luxemburg und an der sozialwissenschaftlichen Forschungseinheit Inside Spezialist für Aggressionsforschung. „Das Besondere an solchen Angriffen ist aber, dass sie sich rasant verbreiten lassen, dass sie überdies, wenn sie im Internet erfolgen, einen potenziell unüberschaubar großen Zuschauerkreis haben, und dass das Opfer sich im Grunde an keinem Ort und zu keiner Zeit davor schützen kann.“ Und schließlich verspreche der Cyberspace dem Täter Anonymität: Tarnung hinter einer IP-Adresse oder einem Spitznamen auf einem Portal wie MSN oder Facebook. All das trage dazu bei, dass Cyber-Mobbing vom Opfer noch schmerzvoller erlebt werden kann, als auf herkömmliche Art „fertig gemacht“ zu werden.

Deshalb ist es nur teilweise beruhigend, dass die Häufigkeit von Cyber-Mobbing in Luxemburg, den ersten Erkenntnissen nach, noch relativ klein ist: In den Erhebungen, die Steffgen und sein Team an 22 Sekundarschulen im Lande durchführten, gaben 11,5 Prozent der befragten Schüler an, im Schuljahr zuvor beinahe täglich oder mehrmals pro Woche Opfer „traditioneller“ Drangsalierungen durch andere geworden zu sein, aber nur 4,3 Prozent hatten derart häufig Cyber-Mobbing erlitten. Und während 14 Prozent der Befragten angaben, andere derart oft „klassisch“ gequält zu haben, wollten nur fünf Prozent Cyber-Mobber gewesen sein. Eine Untersuchung an Primärschulen ergab, dass 0,7 Prozent der befragten Schüler mehrmals pro Woche Cyber-Mobbing-Opfer geworden war; der Anteil der Täter lag ebenso hoch. Die Luxemburger Zahlen nennt Steffgen vergleichbar mit denen aus Großbritannien, Italien und Spanien.

Für die Wissenschaft ist das Thema noch ziemlich neu und vielfach unerforscht. Vieles deutet darauf hin, dass Opfer traditionellen Mobbings nicht selten Täter beim Cyber-Mobbing werden; das haben auch die Forscher von der Uni Luxemburg festgestellt. Ebenso, dass Cyber-Mobbing nicht „typisch männlich“ ist und Mädchen ähnlich häufig wie Jungen Täter werden. Abgesehen davon jedoch scheint Cyber-Mobbing einerseits etwas mit einer Internet-Kulturleistung zu tun zu haben, andererseits mit einer schier grenzenlosen Naivität im Umgang mit den neuen Medien.

Der erst vor kurzem vom Differdinger Sozialforschungsinsitut Ceps/Instead publizierten Studie Livres et multimédia. La culture chez les jeunes (Population et emploi, 39/2009) zufolge, waren in Luxemburg schon im Jahr 2004 sechs Prozent der Sechs- und Siebenjährigen, 28 Prozent der Acht- bis Zehnjährigen, und 63 Prozent der Elf- bis Dreizehnjährigen Internetnutzer. Die Anteile könnten sich seitdem nicht nur erhöht haben, weil die Internet-Nutzung allgemein weiter wuchs und 2008 fast vier Fünftel aller Haushalte über einen Anschluss ans Netz verfügten (statnews 4/2009). Sondern auch, weil sich erst in den letzten Jahren das so genannte Web 2.0 mit seinen interaktiven Angeboten entwickelte.Bereits Kinder würden dieselben Internet-Dienste wie Erwachsene nutzen – mit Ausnahme des Web-Bankings –, notierten die Mitarbeiter der im Wirtschaftsministerium ansässigen Cyberworld Awareness and Security Enhancement Structure (Cases) in ihrem internen Erfahrungsbericht nach 130 Vorträgen zur IT-Sicherheit, die sie im Schuljahr 2007/2008 vor rund 5 000 Primär- und Sekundarschülern hielten. Und eben auch dies: „On remarque que les jeunes ont une forte inclination vers la communication via le chat plutôt que via les courriers électroniques. (...) Quasiment tous les enfants et adolescents ont un téléphone mobile dont la plupart sont équipés de caméras et de la fonctionnalité bluetooth. Beaucoup accèdent même à l’Internet avec leur téléphone mobile. (...) Les jeunes se servent de leurs téléphones mobiles pour communiquer entre camerades et pour organiser leur vie privée.“ 

Wie stark die Cyberwelt der Jugend von heute als sozialer Raum dient, in dem man sich selbst darstellt und Beziehungen pflegt, zeigt die Wirkung, die im vergangenen Schuljahr eine Lyzeumsschülerin bei dem Versuch erzielte, sich an ihren Mitschülerinnen zu rächen: In einem Chat Room gab sie sich als Junge aus und schaffte es, dass so gut wie alle Mädchen der Klasse sich in diese fiktive Gestalt verliebten. Plötzlich jedoch ließ sie sie ankündigen, sich das Leben nehmen zu wollen, und diesen Schock überwanden die meisten  ihrer Mitschülerinnen nur mit psychologischem Beistand. 

„Die meisten Erwachsenen“, glaubt François Thill von Cases, „bewegen sich vielleicht mühsam im Web 1.0, die Kinder sind Lichtjahre weiter.“ Doch wenn, wie Cases hervorhebt, viele Schüler einen Virenbefall ihres Computers als Fatalität hinnehmen, ihre Passwörter bedenkenlos Freunden anvertrauen und massenhaft Copyright-geschützte Inhalte aus dem Netz herunterladen, dann, so Thill, „verwechseln die Kinder das weltweite Kommunikationsnetz mit dem übersichtlichen Chat Room von MSN, wo man nicht mit jedem Umgang hat.“ Und dann ist der Umgang mit den neuen Medien alles andere als abgeklärt – abgesehen von jenen Jugendlichen vielleicht, die sich im Internet einen Trojaner kaufen, um aus Spaß den Rechner eines anderen zu kidnappen. Die meisten Cyber-Mobbing-Angriffe, das zeigen die Erhebungen der Uni Luxemburg, ereignen sich außerhalb der Schule.

„Wenn man den Schülern etwas von Sicherheitsrisiken erzählt, dann hören sie kaum auf zu staunen“, sagt Fer-nand Barbel. Der Informatiklehrer ist einer der beiden ständigen Mitarbeiter von norTIC, einer 2003 gegründeten Initiative, die in den Primärschulen in 16 Gemeinden der Kantone Clerf und Vianden zunächst die Computerausstattung auf Vordermann brachte, „seit 2006 aber vor allem pädadogisch aktiv“ ist, so Barbel. Ab dem 3. Schuljahr, weil die Erstkommunion den Kindern mindestens ein eigenes Handy einbringe, organisiert norTIC gemeinsam mit Cases einen Zwei-Stunden-Unterricht zu den Themen Datensicherheit, Internet-Piraterie und Cyber-Mobbing. Der Ansatz: Den Kindern klarmachen, wo die Freiheit des Anderen beginnt und welche Konsequenzen Cyber-Mobbing haben kann. Er empfehle auch, sagt Barbel, alle potenziellen Beweisstücke aufzubewahren, ob Chat-Aufzeichnungen, SMS oder E-Mails. „Wenn nötig, findet die Polizei den Täter heraus.“

Cyber-Mobbing landet tatsächlich nicht selten vor Gericht; wenngleich als Klage wegen Verleumdung, Hacking, Bruch der Privatsphäre oder Bedrohung. Leider sei letzterer Tatbestand „sehr häufig“, sagt Simone Flammang, Jugendstaatsanwältin beim Bezirksgericht Luxemburg. Und dort zeigt sich offenbar, wie bedeutungsvoll die vermeintliche Tarnung für den Cyber-Täter ist und wie therapiewirksam die Konfrontation mit dem Opfer sein kann – bereits, wenn ein solcher Fall in der außergerichtlichen Mediation behandelt wird. „Die Distanz zwischen Opfer und Täter aufzuheben, hilft!“, sagt die Staatsanwältin.

Leider sei, sagt François Thill von Cases, die Offenheit für die Problematik in den Schulen „sehr unterschiedlich“, und kritisiert, dass nicht selten die Handy-Nutzung in den Schulen generell verboten wird, weil die Mobiltelefone zum Verbreiten von Droh-SMS benutzt werden. Das sei keine Lösung: „Dann geht es nach der Schule um so mehr los, in der Schule aber wird über das Problem nicht mal mehr gesprochen und die Schüler bleiben allein damit.“

Auch die Sensibilisierung und Aufklärung sei in den Schulen nicht einheitlich möglich. Im Sekundarunterricht sind ab der siebenten Klasse zwei Stunden Training durch Cases und die Initiative Lusi (Luxembourg Safer Internet) Pflicht – dafür hat das Bildungsministerium gesorgt. „Wir wissen, das ist nicht viel“, sagt Claude Schock, der das Programm im Ministerium koordiniert, „aber es ist ein erster Schritt.“

Im Primärschulbereich dagegen ist solcher Unterricht optional. Obwohl er seit vier Jahren angeboten werden kann, hätten sich manche Schulen noch immer nicht dafür gemeldet, beklagt François Thill. Das funktioniere bei den Jugendhäusern viel besser: Dort befasse man sich unter Anleitung des Service national de la Jeunesse schon seit Jahren mit dem „Safer Internet“ und organisiere Weiterbildungen für Erzieher und Sozialarbeiter. Beim Lehrpersonal dagegen seien die Unterschiede im Problemverständnis groß. „Manche haben schlichtweg keine Ahnung davon. Oder sie wollen es nicht wissen.“ Cases gebe deshalb in Kürze ein 89-seitiges Lehrbuch über Computersicherheit und Cyber-Mobbing heraus.

An dieser Stelle beginnt das Mobbing-Problem allerdings über den Cyberspace hinauszureichen. „Wissenschaftlich ist nachgewiesen, dass die beste schulische Prävention von Mobbing gleich welcher Art in einem interessierten Lehrer und einer guten Gesprächskultur in den Klassen besteht“, sagt Aggressionsforscher Steffgen. Fernand Barbel von norTIC stimmt zu, weist aber darauf hin, dass der Lehrer ebenfalls Cyber-Mobbing-Opfer sein kann. Und zu oft bestehe seine Rolle einfach nur darin, Leistungsdruck an die Schüler weiterzugeben. „Böte die Schule mehr Kooperation statt Konkurrenz, würden die Schüler weniger aggressiv“, ist er überzeugt.

Unterschätzt würde bei all dem die Rolle der Eltern, meint Georges Steffgen. Dass regelrecht Welten lägen zwischen der Nutzung der neuen Medien durch die Kinder und Jugendlichen und ihre Mütter und Väter sei riskant: Selbst gegenüber ihrem Nachwuchs besonders kommunikationsbereiten Eltern könnte entgehen, welches Problempotenzial Computer, Handy und Internet für die Kinder darstellen. 

Peter Feist
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