Frauen auf der Leinwand im Kinoherbst

Cowboys, Indianer und Taylor Swift

d'Lëtzebuerger Land vom 03.11.2023

„Can you spot the wolves in this picture?“, fragt eine Off-Stimme zu Beginn von Martin Scorseses Killers of the Flower Moon. Es dauert jedenfalls keine dreieinhalb Stunden, bis man die Wölfe entdeckt hat. Sie sind überall. Inmitten dieser Herde steht die Figur hinter der Off-Stimme: Molly Burkhart, von Lily Gladstone verkörpert, ist nicht nur das moralische Herzstück von Scorseses Film, sondern auch eine der spannendsten Frauenfiguren im Œuvre des Amerikaners. Ein Œuvre, soviel muss an dieser Stelle klar gesagt werden, dessen Forte nie die weiblichen Parts waren. Scorseses Molly – das Genitiv wird hier bewusst verwendet – ist nur eine von aktuell einer Handvoll Frauen im Kino, die es wert sind näher zu beleuchten. Neben dem Western des Altmeisters finden sie sich in einem französischer Dokumentarfilm, einem bombastischen Konzertfilm, sowie in einem rumänischen Arthouse-Film. Obschon die Filme nicht grundverschiedener sein könnten, verbindet sie eine moderne Darstellung weiblicher Charaktere.

Vom sommerlichen Barbenheimer-Phänomen benebelt wurde insgeheim mit einer Herbstauflage gerechnet, als es klar war, dass Killers of the Flower Moon fast zeitgleich mit Taylor Swifts The Eras Tour-Konzertfilm im Kino starten würde. Ihr Song Cruel Summer war diesen Sommer nicht aus den Radiorotationen herauszubekommen, ihre Tour war und ist ein globales Phänomen – die Europadaten nächstes Jahr waren binnen weniger Stunden restlos ausverkauft – und ihr Liebesleben beschäftigt scheinbar alle. The Eras Tour ist jetzt also auch ein 165 Minuten langer Konzertfilm, der sich jede Mühe gibt, den Menschen Taylor Swift in dem 80 000 Menschen-Arena-Dispositiv-Popstar Taylor Swift hervorzuheben. Und das gelingt trotz Bombast-Show, Choreografien, Tänzer/innen und Spektakel mit ganz genau zwei Stilmitteln. Mit einer Nahaufnahme von Swifts Fingernägel. Jeder Finger ist anders bemalt und an einigen Nägel ist der Lack sogar schon zum Teil abgeschlagen. Wie passt das in das sonst so durch und durch orchestrierte Bild des Popstars? Es ist die Manifestation von Adornos Richtigem im Falschen und sehr wahrscheinlich Teil des selbstbewussten Images von Taylor Swift. Dass Pop mit Künstlichkeit einhergeht, ist Swift, die ihre Texte selber schreibt, nicht entgangen. Aber sie weiß, mit der Hilfe von Regisseur Sam Wrench, mit diesen wenigen Einstellungen auf ihre Fingernägel den Authentizitätsbonus trotz ihrer Liebe zu kniehohen Glitzer-Louboutin-Shuhen und Spektakel für sich zu gewinnen. Die Inszenierung der Performance auf allen Ebenen ist perfekt.

Bei Radu Jude ist die Performance der zentralen Figur weniger kostenspielig als noch im Swift‘schen Stadion. In Do Not Expect Too Much from the End of the World mäandert Angela – ebenfalls zweidreiviertel Stunden lang - in der relativen Sicherheit ihres Pkws durch das trist-graue Bukarest und versucht ihren schlauchenden Arbeitsalltag zu meistern. Die komplett überarbeitete Frau muss sich dann noch die tagtägliche Belästigungen und Zurufe ihrer männlichen Zeitgenossen auf der Straße um die Ohren hauen. Um den Frust und ihre Wut zu kanalisieren, verwandelt sich Angela auf ihrem TikTok-Account zu Bobita. Ein geschmackloses Alter-Ego Angelas, welches dank Gesichtsfilter an den selbsternannten Frauenfeind und mutmaßlichen Menschenhändler Andrew Tate erinnert. Eine Online-Figur, die Angela-Schauspielerin Ilinca Manolanche unabhängig des Film tatsächlich pflegt. Mit dieser Persona zieht sie über alles und jeden her. Die kruden Sexfantasien und rassistischen Hassreden kommen bei den Followern sehr gut an. Für Angela ist es aber, ohne dass Jude es großartig kommentiert, ihr Kanal, um mit dem gesellschaftlichen Sumpf um sie herum klarzukommen. Die Bühne ist kleiner, hat sich ins Digitale verlagert und ist eher ein versteckter Hilfeschrei.

Hilfe erhalten die Frauen in Claire Simons Dokumentarfilm Notre corps alle. Simons Kamera begleitet Frauen jeder Couleur in den verschiedensten Abteilungen eines Pariser Krankenhauses. Hochschwangere, welche die es werden wollen, krebskranke, alternde und jene, die Frauen werden wollen. Claire Simon ist quasi die Kehrseite der Münze zu Frederick Wisemans Dokumentarfilm Hospital (1970). Schon alleine die beiden Titel machen das klar. Hospital, Notre corps – während Wiseman die Institution in den Vordergrund stellt, geht es bei Simon immer um die Menschen. Um die Frauen. Und sie ist dabei, praktisch kommentarlos, so politisch feministisch wie kaum jemand sonst in diesem Kontext. Wobei kommentarlos das falsche Wort ist. Ihre Stimme ist immer wieder hinter der Kamera zu hören, wenn sie mit den Patientinnen kommuniziert, den Ärzt/innen mit einer Übersetzung aushilft oder sich ganz einfach solidarisiert. Bis sie sich dann – Achtung, Spoiler – mit der eigenen Brustkrebsdiagnose befassen muss. Eine in jeder Hinsicht ergreifende Situation. „Occupez-vous du film et moi, je m‘occuperai de vous“, lässt sie ihr Arzt verstehen. Die Rolle des Filmemachers, nicht nur im handwerklichen Sinne, sondern auch gegenüber der verhandelten Themen und den wahrhaftigen Figuren dahinter, verbindet Claire Simon und Martin Scorsese dann wieder. Denn auch Scorsese stellt sich – Achtung, weiterer Spoiler – im Epilog seines Westerns vor die Kamera. Aus Solidarität gegenüber dem indigenen Osage-Stamm im Mittelpunkt des Films, als auch als Mittelsmann der Kollektivschuld ihnen gegenüber. Und letztlich steht er natürlich auch als Regisseur vor der Kamera, der zu verstehen gibt, dass sein Film, seine Repräsentation dieses traurigen Kapitels der Vereinigten Staaten auch nur ein Kunstgriff ist. Sein ganz persönlicher Versuch, sich mit den wahren Begebenheiten auseinanderzusetzen.

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Tom Dockal
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