Etwas Gutes hat die erneute Corona-Welle vielleicht: Sie lässt jetzt schon für den Herbst lernen

Sommer, Sonne, Covid

Eine Gymnastikgruppe während der Covid-Krise auf einer Wiese in Luxemburg-Kirchberg
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 24.07.2020

Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) machte sich am Mittwoch auch selber Mut: „Vielleicht kriegen wir die Kurve ja flach gehalten“, sagte sie bei dem wöchentlichen Corona-Rückblick, den das Ministerium neuerdings ausrichtet.

Dabei sehen die Zahlen nicht gut aus: In der Woche vom 13. bis zum 19. Juli waren 684 neue Covid-19-Infektionen registriert worden. In der Woche zuvor 401. Damals überschritt die Luxemburger Statistik mit 55,2 neuen Fällen auf 100 000 Einwohner jene Schwelle von 50, die in Deutschland die Seuchenschutzbehörde Robert-Koch-Institut festgelegt hat, um „Risikogebiete“ zu definieren, und sie erklärte Luxemburg zu einem. Eine Woche später erreichte der 100 000-Einwohnerwert bei 92,5 Fälle. Und nur zwei Stunden nach Lenerts Pressebriefing meldete ihr Ministerium für den Mittwoch 129 Neuinfektionen. Am Morgen hatten auch die Schweizer Behörden Luxemburg als Risikogebiet eingestuft.

Die „zweite Welle“, von der nun auch offiziell die Rede ist, trifft die Regierung unvermutet und zur Unzeit. Eigentlich hatte sie im Juni, als die täglichen Neuinfektionen im einstelligen Bereich lagen und termingerecht der Notstand aufgehoben wurde, selber den Eindruck vermittelt, das Déconfinement könne immer weiter gehen, wenn auch Schritt für Schritt, und sie hatte den Bürger/innen Lust auf Sommerferien, ein wenig Party nach dem Lockdown und zum Geldausgeben gemacht. Nun steht sie vor dem Dilemma, die gute Laune nicht völlig zu verderben, aber das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten. Und im Ausland zu erklären, die Luxemburger Situation sei wegen der vielen Tests „speziell“.

Doch wie speziell sie ist, ist noch nicht klar. Weniger, um damit gegenüber Behörden und Regierungen im Ausland zu argumentieren, als für die Kenntnis der „zweiten Welle“. Am Sonntag beschloss der Regierungsrat auf einer Krisensitzung im Senninger Schloss erste neue Einschränkungen. Mit der gestern vom Parlament im Eilgang verabschiedeten Covid-Gesetzesänderung treten sie am morgigen Samstag in Kraft: Eine Reduzierung der Gästezahl im privaten Rahmen auf zehn, Versammlungen in der Öffentlichkeit werden ebenfalls auf maximal zehn Personen begrenzt und „la peur du gendarme“ durch erhöhte Geldstrafensätze erzeugt. Vielleicht reicht das ja. Obwohl die Corona-Modellierer von der Taskforce Research Luxembourg am Sonntag beunruhigende Simulationen vorgelegt hatten: Ohne neue Maßnahmen, warnten sie, könnte schon bis Ende August mit derart vielen und auch schweren Erkrankungen zu rechnen sein, dass dann rund die Hälfte aller Intensiv-Betten in den Spitälern beansprucht wäre und im Spätherbst, für den ohnehin mit neuen Ausbrüchen gerechnet worden war, so gut wie alle. Und möglicherweise könnte die Zahl der Todesfälle bis auf 2 000 zunehmen.

Aber die Wissenschaftler/innen sind sich auch weniger sicher als sonst mit ihren Modellierungen. In den Prognosen steckt eine breite Von-Bis-Spanne: Vielleicht verdoppeln sich die Infektionszahlen alle acht Tage, vielleicht alle 13 Tage, schreiben sie. Womöglich könne es bis Mitte dieser Woche 200 neue tägliche Fälle geben und 400 pro Tag gegen Ende dieses Monats. Tatsächlich aber kam es diese Woche nicht so schlimm. Die 129 neuen Fälle vom Mittwoch, die in Wirklichkeit wiedergeben, was am Dienstag registriert wurde, waren vielleicht der Spitzenwert der Woche, denn erfahrungsgemäß kommt mittwochs besonders viel an Nachmeldungen und Neuberechnungen zusammen. Noch wichtiger ist: Die Zahl der Hospitalisationen – 54 am Mittwoch – ist noch immer vergleichsweise niedrig. Im April lag sie zwischen 200 und 300. Die Zahl der Intensivpatienten lag Mitte der Woche mit fünf weit unter dem Spitzenwert von 45, der Anfang April erreicht worden war. Neue Todesfälle gab es bisher nicht.

Andererseits jedoch ist das Coronavirus landesweit präsent. Das zeigen die Virusreste, die vom Luxembourg Institute of Science and Technology in den Abwasseranalysen an Kläranlagen gefunden werden. Doch inwiefern daraus folgt, dass Sars-CoV-2 „unkontrolliert“ umgeht, wie vor drei Monaten, oder man es doch vorwiegend mit einzelnen Infektionsherden zu tun hat, die sich nachverfolgen lassen, kann noch niemand genau sagen. Vergangene Woche hatte der Direktor des Gesundheitsamtes erklärt, es gebe „beides“. Paulette Lenert sagte am Mittwoch, es sehe so aus, als gebe es „überwiegend Cluster“. Doch je mehr Cluster es gibt, desto eher dringt das Virus nach und nach breiter vor. Das Prinzip Hoffnung lautet deshalb, dass die vielen Corona-Tests – am Dienstag waren es fast 20 000 – die Realität möglichst gut abbilden und die Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten klappt. Nachdem der Gesundheitsamtschef vor einer Woche eingeräumt hatte, das Tracing klappe nicht mehr vollständig, insistierte die Ministerin am Mittwoch: „Wir haben wieder alles im Griff.“

Etwas Gutes hat die Corona-Sommerwelle vielleicht: Sie lässt jetzt schon lernen, was für die kältere Jahreszeit wahrscheinlich ohnehin nötig würde. Gesundheitsamt und Ministerium bereiten ihre Daten besser auf, machen mehr davon publik, und mit Gemeinden und Betrieben hat offenbar die Suche nach gezielten Interventionsmöglichkeiten begonnen. Lokal sind mittlerweile Sozialarbeiter-Teams unterwegs, um die Corona-Aufklärung in möglichst alle Gesellschaftsschichten zu tragen. Dass solche Ansätze jetzt entwickelt werden, dürfte sich als nützlich herausstellen, wenn ab etwa Anfang Oktober die Wetterlage für die Verbreitung von Atemwegsviren günstiger wird und viele Menschen wegen aller möglichen Erreger durcheinanderhusten werden.

Bleibt vor allem die Personalfrage in Ämtern, Teststationen, Krankenhäusern und so fort. Wie fragil die Lage in dieser Hinsicht in Luxemburg ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Gesundheitsministerin nicht mehr davon spricht, dass 60 neue Covid-Fälle am Tag das Maximum seien, um die Kontakte neu Infizierter nachverfolgen zu können. Nun will sie lieber keine Zahl mehr nennen, weil es darauf ankomme, wie viele Kontakte ein Infizierter hatte. Dass es eng werden könnte beim „analogen“ Contact Tracing per Telefon, deuten die Simulationen der Forscher-Taskforce vom Sonntag an: Nur wenn die sozialen Kontakte stärker beschränkt, außerdem eine erneute Empfehlung zur Telearbeit ausgegeben und das Personal für das Contact Tracing rasch auf 120 hochgefahren würde, ließe sich – bei allen Unsicherheiten – eine Überlastung der Spitäler über den Sommer vermeiden. Die Regierung beschloss am Sonntag zunächst Kontaktbeschränkungen. Die Rekrutierung und Schnell-Ausbildung von Beamten aus anderen Staatsverwaltungen für das Contact Tracing läuft. Bis Mittwoch aber war der verfügbare Mitarbeiterstab erst bei 85 angelangt.

Auch die Massentests im Large-scale testing kann Luxemburg nicht aus eigener Personal-Kraft realisieren. Das war in der ersten Phase so, die kommenden Montag endet, aber wahrscheinlich um einen Monat verlängert wird. Das wird auch in der zweiten Phase so sein, die von Ende August bis Ende März 2021 angesetzt ist und für die das Parlament am Dienstag ein Finanzierungsgesetz über 60,7 Millionen Euro verabschiedete. Im Mai hatte der internationale Militärdienstleister Ecolog, der die Großtests in der ersten Phase bereitstellt, Personal dafür in ganz Europa rekrutiert. In Phase zwei dürfte das ähnlich sein; die vergangene Woche veröffentlichte Ausschreibung der nächsten Runde Large-scale testing wendet sich an den freien Markt um Bereitstellung eines Rundum-Pakets: von der Durchführung der Tests selbst über den Betrieb einer Telefon-Hotline bis hin zur Mitarbeit an der Führung des Testkonzepts, gemeinsam mit Gesundheitsamt und Ministerium.

Politisch ist der Umgang mit den neuen Infektionen ziemlich unumstritten. Hatten vergangene Woche die Oppositionsparteien sich geschlossen wegen mangelnder Transparenz beschwert, war davon diese Woche weniger zu hören; vielleicht, weil sich am Wochenende gezeigt hat, dass im Moment weder Regierung noch Wissenschaft die Lage genau kennen. Am Dienstag im Parlament war lediglich die ADR gegen das Finanzierungsgesetz zum Large-scale testing, behauptete, die Großtests brächten nichts und bliesen nur Luxemburgs Fall-Statistik auf.

Politische Auseinandersetzungen wird es vielleicht noch um den Einsatz einer Tracing App geben, dem die Regierung bisher skeptisch gegenübersteht. Sollten die Covid-Fälle derart zunehmen, wie die Taskforce Research es am Sonntag nicht ausschließen wollte, und mehrere hundert täglich erreichen, dürfte sich über kurz oder lang die Frage stellen, ob eine App als Ergänzung zu den Telefon-Interviews nicht doch sinnvoll wäre. Wenngleich die Apps auch technische Grenzen haben, Datenschutzfragen sich stellen und das Freiwilligkeitsprinzip gelten müsste, wäre die Akzeptanz dafür in der Bevölkerung am Ende womöglich gar nicht so klein. Auch das Large-scale testing war zunächst wenig populär, aber das hat sich zu ändern begonnen. Und falls es jetzt gelingt, die Kurve flach zu halten, ist das ab Herbst auf jeden Fall weniger sicher.

Peter Feist
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