Claire Delcourt (LSAP) hat den Sprung ins Parlament geschafft. Den großen Erfolg kann sie sich selbst nicht so ganz erklären

„Fäerdeg maachen, wat een ugefaangen huet“

Claire Delcourt
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 10.11.2023

Als Treffpunkt hat Claire Delcourt das Chocolate House gegenüber vom großherzoglichen Palast vorgeschlagen. Sie kommt gerade aus der Fraktionssitzung, gefolgt von einer weiteren internen Parteisitzung. Sie trägt blaue Converseschuhe, das lange blonde Haar fällt über eine perlenbestickte Bluse. Dienstags ist der vollste Tag, meistens weiß sie nicht, was genau alles ansteht. „Das ist meine erste Mahlzeit heute“, sagt sie, als die heiße Schokolade mit Spéculoos-Geschmack vor ihr steht – es ist kurz nach 13 Uhr. Die letzten Wochen seien etwas „d’ënnescht-d‘iewescht“ gewesen. Aber sie habe immer schon morgens nur einen grünen Tee gebraucht, auch bevor sie Mutter und Abgeordnete wurde.

Eine große Überraschung war es, als es beim vierten Mal letzlich für ein Mandat geklappt hat. Erst kandidierte die Sozialistin 2017 bei den Gemeindewahlen in Hesperingen, dann bei den Nationalwahlen 2018; damals wurde sie vierzehnte auf der Zentrumliste. Im Juni dieses Jahres trat sie in Contern an und wurde in den Gemeinderat gewählt, konnte diese Rolle jedoch nicht annehmen, weil sie bei der Kriminalpolizei arbeitete und eine professionelle Unvereinbarkeit bestand. Sie sei „bestürzt“ darüber gewesen. Sie hätte niemals kandidiert, wenn sie das gewusst hätte. Dieses Pflichtbewusstsein zieht sich durch das Gespräch mit Claire Delcourt. „Ich bin aufgewachsen mit dem Gedanken, dass man das, was man anfängt, auch zu Ende bringt.“ Am 8. Oktober holt sie den Restsitz im Zentrum, platziert sich vor der Parteigröße Cécile Hemmen. Ihre Mitstreiterin Liz Braz, 27 Jahre alt, und Claire Delcourt kann man als die weibliche Erneuerung der Sozialisten verstehen, vor allem im Kontext der leichten Abnahme an Zuspruch von gestandenen Politikern wie Mars Di Bartolomeo und Jean Asselborn.

Sie informiert sich jeden Morgen, vor allem über nationale Medien. ARD und ZDF für Internationales, sagt sie, denn sie sei germanophil. Wenn Claire Delcourt Zeit hat, und davon hat sie derzeit wenig, dann auch BBC oder Guardian. Wie nimmt sie den Israel-Palästina Konflikt wahr? „Mehr als tragisch. Als ich ein Foto von einer Mutter gesehen habe, die ihr totes Kind im Arm hält…“ Ihre Stimme bricht ab, ihre Augen füllen sich mit Tränen, die die Wangen runterkullern. Sie entschuldigt sich. Vor zehn Monaten ist sie Mutter eines Sohnes geworden. Es sei irgendwie lachhaft, wie wir hier in Luxemburg über Bodycams und Sicherheit debattieren. Das Leid, das die Menschen durchleben, könnten wir uns nicht vorstellen.

Zu Beginn ihres Engagements habe sie eine rosarote Brille angehabt, sagt sie. Sie habe sich ganz einfach „für Tiere starkmachen wollen“, und erst später bemerkt, dass das nur ein kleiner Teil eines sehr großen politischen Themenfeldes darstelle. Claire Delcourt wuchs in der gehobenen luxemburgischen Mittelklasse auf, ihre Familie war jedoch nicht politisch aktiv. Ihr Vater Claude Delcourt ist Allgemeinarzt, ihre Mutter Simone Delcourt war Direktorin der CSSF, ist Vizepräsidentin des Verwaltungsrats der Spuerkeess und Mitglied des Conseil national des finances publiques (CNFP). Ihr Urgroßvater mütterlicherseits wurde im Konzentrationslager Hinzert ermordet, weil er Leuten geholfen hat, die Schwierigkeiten hatten. Jemand hatte ihn verraten.

Das politische Engagement führt sie darauf zurück, dass ihr großer Bruder Yves Delcourt sie motiviert habe, sich in der Lokalsektion in Hesperingen einzubringen. Er war selbst damals bereits in der Partei aktiv und kandidierte 2017 in Walferdingen. Auch Rita Velazquez-Lunghi, die die Lokalpolitik in der historisch für die LSAP sehr schwachen Gemeinde prägt, habe sie motiviert. 2016, als sie den Sozialisten beitrat, sei die langjährige Gemeinderätin eine Mentorin für sie gewesen. Sie habe Claire Delcourt anderen aus der Partei vorgestellt, sie in die Strukturen eingearbeitet. „Ich habe einfach Glück gehabt, nicht zu denen zu gehören, die bewusst kleingehalten werden.“ Ihren Erfolg am 8. Oktober kann sie sich dennoch nicht erklären. Ihr Bruder habe noch darüber gescherzt, Claire habe gehofft, nicht Letzte zu werden. In Hesperingen kennen die Menschen sie zwar, weil sie etwa im Musikverein oder den Vakanzenaktivitéiten aktiv war, aber sie sei ja auch mehrmals umgezogen. Während ihrer Zeit in der Hauptstadt gab es Corona-Lockdowns, und sie war kaum nach außen sichtbar. „Wahrscheinlich sind es letztlich viele kleine Faktoren.“

Nach einem Abitur am Stater Kolléisch, wo sie eigenen Angaben nach eher ein „Underdog“ war und mit den Schülern abhing, die nicht so aufgefallen sind, wollte sie erst Veterinärmedizin studieren, entschied sich dann jedoch für ein Biologiestudium in Innsbruck. Dem schloss sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin für Tiere an, und schließlich ein berufsbegleitendes Master-Fernstudium in Biologie an der Universität Edinburgh. Das britische System findet sie viel interessanter, weil es die Autonomie der Studenten fördert. Ihre Arbeit bei der Kriminalpolizei bestand in den letzten Jahren vor allem darin, genetische Profile, die die Spurensicherung an Tatorten birgt, in eine Datenbank einzuführen. Die nächsten Wochen wird sie sich in politische Dossiers einarbeiten. Sie begrüßt, dass sie in der Opposition erstmal „picken“ gehen darf, dort, wo ihr etwas an der Regierungsarbeit nicht gefällt, und sie nicht von Anfang an Kompromisse als Koalitionspartner eingehen muss. Sie sorgt sich darum, dass es möglicherweise zu mehr Unsicherheit kommen könnte, wenn soziale Prekarität im Kurs einer restriktiven Steuer- und Finanzpolitik zunimmt. Sie sei ebenfalls gespannt darauf, wie grün der neue Koalitionsvertrag sein wird.

Privat stemmt sie derzeit einiges. Ihr Mann Jérôme Merker, Wirtschaftsberater im Finanzministerium, überquert gerade den Atlantik alleine in einem Segelboot, für einen guten Zweck in Zusammenarbeit mit der Fondatioun Kriibskrank Kanner. Seit mehreren Monaten ist er wochenweise weg. Dieses Herzensprojekt sei seit vielen Jahren geplant gewesen, es war auch klar, dass es möglicherweise mit dem Nachwuchs einhergehen würde. Der Einzug ins Parlament war indes nicht planbar, was zu einem ziemlich chaotischen Oktobermonat geführt hat. Ihre Familie sei ihr „Standbein im Leben“, ohne sie würde sie den Alltag nicht hinkriegen. „Wenn mein Mann wieder da ist, will ich erst mal eine Weile nichts mehr über Boote hören und er wird sich wieder mehr kümmern.“ Seit mehr als einer Woche hat sie nichts mehr von ihm gehört, da er auf offener See in Richtung Karibik fährt. In etwa einer Woche wird er die Mission hoffentlich abgeschlossen haben. „Wir sind ein Paar, das sich gegenseitig bei der eigenen Entfaltung unterstützen will.“ Wer inspiriert sie politisch? Jacinda Ardern. An ihr bewundere sie vor allem, wie sie ihr Land geführt habe. Tatsächlich wurde der früheren neuseeländischen Premierministerin immer schon eine große Empathie zugesprochen, vor allem in der Covid-Pandemie und während der Terrorattacken. Sie stillte ihr Kind im Parlament, ein jamais-vu. Und am Anfang dieses Jahres legte sie ihr Amt nieder, weil sie nicht mehr „genug im Tank hatte, um dem Job gerecht zu werden“. Eine solche Verantwortung hat Claire Delcourt natürlich nicht übernommen. Dennoch hat sie den Willen mit ihrem Eintritt in die Politik zu zeigen, dass mit etwas Mut eine Vereinbarkeit zwischen Politik und Mutterschaft möglich ist. „Ob das dann geklappt hat, sehen wir in fünf Jahren“, fügt sie lachend hinzu.

Delcourt wirkt aufgeschlossen, gesprächig und zugewandt, und – ein schwieriges, im Kontext von Politiker/innen durchaus waghalsiges Wort – aufrichtig. Wenn es um politische Themen geht, lehnt sich Claire Delcourt noch nicht allzu weit aus dem Fenster und gibt gerne zu, dass sie sich unsicher ist. Etwa, wie die monumentale Transition zu einem sozial inklusiven Klimaschutz in der Praxis aussehen soll. Wärmepumpe, finanzielle Hilfen, die nicht an der richtigen Stelle ankommen: „Ich habe noch keine konkrete Antwort auf diese sehr komplexe Frage.“

Was sie auch nicht weiß, ist, wie sie die Politarena verändern wird. Ein Lernprozess, der bei Berufspolitiker/innen notgedrungen zu mehr Abgebrühtheit führt. Hat sie Angst davor? „Ja. Ich werde an mir arbeiten müssen, um Angriffe eher an mir abprallen zu lassen.“ Wie will sie auf Provokationen unter der Gürtellinie reagieren? Das kann sie sich noch nicht vorstellen. Sie will so gut wie möglich versuchen, das Ganze nicht aufs persönliche Niveau zu heben. Kürzlich gab es einen Mittelfinger von Myriam Cecchetti (Linke) für Delcourts Parteikollegen Dan Kersch. „Er sagt, was er denkt. Das kommt nicht immer gut an, und kann zu solch unglücklichen Situationen führen.“ Sie dagegen sei eher harmoniebedürftig – „aber vielleicht lerne ich mich nun von einer anderen Seite kennen“.

Sarah Pepin
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