Luxemburgensia

Auf der Suche nach Zusammenhang

d'Lëtzebuerger Land vom 06.01.2023

Manche Bücher und Filme, vor allem solche, die vom künstlerischen Schaffensprozess erzählen, zeichnen auch ein Bild von Kritikern. Meist sind es zutiefst unsympathische Figuren, zerfressen von der eigenen Unfähigkeit, etwas Schönes zu schaffen, weswegen sie mit böswilligem Genuss die Arbeit von Schriftstellern oder Regisseuren verreißen – man denke an Walsers Tod eines Kritikers oder Iñárritus Birdman. Es ist ein Zerrbild und trifft, zumindest meiner Erfahrung nach, in den meisten Fällen nicht zu. Die meisten Kritiker lieben ihr Fachgebiet und auch ich liebe es, gute Bücher zu lesen und sie zu besprechen. Ein Verriss macht dagegen wenig Freude, aber es ist die einzige Form der Genugtuung, die einem bleibt, nachdem man Zeit und Muße an ein schlechtes Buch verschwendet hat. Weshalb ich Ihnen das erzähle? Wegen des Romanes Bildnis eines jungen Mannes von Marc Graas.

Bildnis eines jungen Mannes schildert – merke: schildert, nicht erzählt – das Leben von Alex Welter und seinem Vater Nicolas, zwei Generationen einer bürgerlichen Buchhändlerfamilie mit Stammsitz auf dem Limpertsberg. Nach dem frühen Tod der Mutter dümpelt das Verhältnis zwischen dem verträumten Sohn und dem weltkriegsversehrten, aber emsig arbeitenden Vater auf Gefriertemperatur vor sich hin, bis der Junge sich nach einem gescheiterten Trip nach Mexiko entscheidet, die Schule abzubrechen und in den väterlichen Buchladen einzusteigen. Alex beginnt ein flamboyantes Leben als wortgewandter Dandy in der Luxemburger Geschäftswelt, erhält dann irgendwann von einem lettischen Stricher einen Schlag mit dem Baseballschläger gegen den Kopf und verliert seine Fähigkeit zu sprechen. Danach begegnet ihm ein Pole, der ihm erzählt, dass sein inzwischen dement gewordener Vater ein kunstraubender Nazi war, der den eigentlichen Nicolas Welter erschlagen und seine Identität gestohlen hat. Alex beschließt, den Polen zu töten und sich mit der Beutekunst seines Nazivaters ein schönes Leben zu machen. Zwischendurch hat er noch ein Verhältnis mit seiner äthiopischen Haushälterin, die als Flüchtling übers Mittelmeer nach Europa gekommen ist und die er vor der Abschiebung bewahrt hat.

Wem das alles recht zusammenhangslos erscheint, der liegt leider goldrichtig. Das Traurige ist, dass in dem dünnen Bändchen von knapp 120 Seiten wirklich viele gute Ideen stecken. Ideen, die es verdient hätten, als Geschichte ausgearbeitet und erzählt zu werden. Alex‘ Reise nach Mexiko zum Beispiel: Am ersten Tag in der Fremde wird er überfallen und verbringt aus Angst und Scham sechs Wochen im Hostel. In der Zeit schreibt er eine Münchhauseniade über seine angeblichen Erlebnisse in Mexiko und wird, zurück in Luxemburg, mit seinen Geschichten zum Partyknaller. Klingt spannend, oder? Graas handelt das Ereignis auf sechs Seiten ab. Auch der Identitätsdiebstahl des vorgeblichen Nicolas Welter hat Potenzial, gerade in Zusammenhang mit der Homosexualität des Sohnes, eine veritable Identitätskrise literarisch auf die Spitze zu treiben. Und die angedeutete Bigotterie des städtischen Großbürgertums ist auch ein großer Kadaver, den eine scharfe Feder genüsslich sezieren könnte. Aber alle Ideen tauchen auf, werden kurz umrissen – und verpuffen.

Ein Grund dafür ist die Erzählperspektive – Graas hat sich für einen semi-auktorialen Erzähler entschieden, der allerdings wenig Interesse an den Figuren zeigt. Dadurch werden die Charaktere im Buch auch nicht entwickelt, jede Gelegenheit für einen spannenden Dialog oder auch nur einen inneren Monolog wird verschenkt, die Beschreibungen der Figuren wirken hastig und ungelenk. Deswegen wissen sie manchmal auch gar nicht, was sie tun sollen – Bertha etwa, die Haushälterin aus Kusel, taucht kurz auf, kocht Wäinzoossiss mat Moschterzooss und verschwindet wieder. Die Mutter von Alex? Stirbt – das war’s. Selbst ihre Abwesenheit ist für das Verhältnis zum Vater nur für zwei Seiten nach ihrem Ableben relevant. Nicht jede Figur in jeder Geschichte muss eine erzählerische Funktion erfüllen, aber die Art und Weise, wie Graas seine Charaktere verfeuert, erinnert an Silvesterböller mit Fehlzündung. Sie sind völlig überflüssig und noch nicht einmal schön anzusehen.

Ein weiterer Grund ist die Sprache des Romans, die genauso wild und ungepflegt daherkommt wie der Vorgarten auf dem Limpertsberg, den Alex in einem Anflug bürgerlichen Aufbegehrens nicht an die Tulpenparadiese der Nachbarn anpassen will. Hier stehen schöne, poetische Einfälle neben einschläfernden Plattitüden. Der Beginn von Kapitel neun, wo Graas die Brocaregion im Gehirn beschreibt, ist eine der stärksten Passagen des Buches – sobald er aber auf seine Protagonisten kommt, ist „der Mensch wie ein Blatt im Fluss des Lebens“. Ein Satz, den man vielleicht in Serge Tonnars Übersetzung des Daodejing vermuten würde, aber doch nicht in einem zeitgenössischen Roman mit literarischem Anspruch.

Vielleicht ist das aber auch mein Problem: Der literarische Anspruch. Gute Schriftsteller können mit der Erzählperspektive spielen, um ihre Leser hinters Licht zu führen, sie schocken mit der Juxtaposition von Kunstsprache, Umgangssprache, Plattitüde, sie geben Charakteren Stimmen und nehmen ihnen die Worte. Hier hat man das Gefühl, der Autor sei gerade dabei, die Möglichkeiten von Sprache, Erzählung und Figuren zu entdecken, sie zu erlernen, während er schreibt. Das führt zu einem derart eklatanten Mangel an Kohärenz und Stringenz, dass das Buch eigentlich beim Lesen auseinanderfallen müsste – die Einzelteile des Romans wollen offensichtlich nichts miteinander zu tun haben. Von einem gestandenen Kriminalautor sollte man erwarten können, dass er zumindest sein Grundhandwerk beherrscht. Bildnis eines jungen Mannes jedoch… ach, lassen wir das. Das nächste Buch wird besser. Ganz bestimmt.

Tom Haas
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