ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Gezinkte Lotterie

d'Lëtzebuerger Land du 10.11.2023

Nach jeder Wahl gibt es Leute, die mit dem Ergebnis unzufrieden sind. Oft geben sie dem Wahlsystem die Schuld. Das ist eine einseitige Sicht auf die Funktion von Parlament, Parteien, Gewaltenteilung. Aber keine falsche.

Oft verlangen diese Kritiker eine Wahlrechtsreform. Meist sind es Linke. Die CSV hat keinen Grund, sich über das Wahlrecht zu beklagen. Die DP auch nicht. Beide profitierten am 8. Oktober von der Rechtslastigkeit des Wahlrechts.

Die LSAP erhielt mit 711 890 Sitzen elf Abgeordnete. Die DP erhielt mit 703 833 Stimmen 14 Abgeordnete: Mit 8 057 Stimmen weniger bekam die DP drei Mandate mehr als die LSAP. Die Stimmen gehobener Mittelschichtenwähler waren deutlich wertvoller als die Stimmen von Arbeiterinnen und kleinen Angestellten. Das Wahlrecht grenzte an Wahlbetrug. Es begünstigte eine bürgerliche Koalition von CSV und DP. Durch die Verbindung von Landbezirken und Restsitzverfahren.

Die Einteilung der Wahlbezirke steigert künstlich den Einfluss kleiner Landgemeinden. Dadurch begünstigt sie rechte Parteien. Dank der konservativen Landbezirke erhielt die CSV am 8. Oktober drei Abgeordnete mehr als wenn in einem landesweiten Wahlbezirk gewählt worden wäre. Die DP erhielt auf diese Weise zwei Mandate mehr. In einem einheitlichen Wahlbezirk hätten LSAP, Grüne, Piraten, ADR und Fokus je eine Abgeordnete mehr bekommen. Sogar nach dem geltenden Sitzzuteilungsverfahren.

Die von Victor D’Hondt erfundene Berechnung der Mandatsaufteilung begünstigt die größte Partei, die CSV. Die CSV erhielt landesweit 29 Prozent der Stimmen, aber 35 Prozent der Abgeordneten. Die DP kam auf 19 Prozent der Stimmen und 23 Prozent der Abgeordneten. Umgekehrt war bei allen anderen Parteien der Abgeordnetenanteil geringer als der Stimmenanteil. Das Divisorverfahren mit Abrundung und Restsitzen ist mehr als die an jedem Wahlabend beklagte „Lotterie“.

Das Wahlgesetz begünstigt bürgerliche Garanten der herrschenden Verhältnisse. Der Wahlzwang soll unpolitische Wahlberechtigte gegen den Einfluss überzeugter Linkswählerinnen mobilisieren. 2004 erhöhte die CSV die Altersgrenze der Wahlpflicht. Weil Ältere überdurchschnittlich konservativ wählen. Das Panaschieren reduziert politische Konflikte auf Personalangelegenheiten. Es begünstigt die Wahl bürgerlicher Notabeln. Neuerdings auch fernseh- und internetgewandter Schwätzer.

Kritisiert wird die mangelnde soziale Repräsentativität des Parlaments. Von den 60 am 8. Oktober gewählten Abgeordneten sind 32 Beamtinnen und Rechtsanwälte. Das macht 53 Prozent aus. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 16 Prozent. Wäre die LSAP-Kandidatin Antonia Afonso Bagine nicht in den Stadtrat, sondern ins Parlament gewählt worden, wäre sie dort die erste Arbeiterin in 175 Jahren.

Am häufigsten wird das Wahlrecht kritisiert für die Entmündigung eingewanderter Einwohner: 47 Prozent der Landesbewohnerinnen sind nicht zu Parlamentswahlen zugelassen. Weil sie den falschen Pass besitzen. Der Anteil der Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung war seit 1913 nicht mehr so niedrig (Statec, Cahiers économiques 79, S. 304).

Das Zensuswahlrecht kommt zurück: Von einer halben Millionen Erwerbstätigen sind 74 Prozent vom Wahlrecht ausgeschlossen. Weil sie über eine Landesgrenze zur Arbeit fahren (47 Prozent) oder eingewandert sind (27 Prozent; Statnews 17/23). Das 1919 eingeführte Arbeiterwahlrecht wurde zurückgerollt. Linke Arbeiterparteien werden zur Verbürgerlichung oder Marginalisierung verurteilt.

In einem Land, wo drei Viertel der Arbeitenden von Legislativwahlen ausgeschlossen sind, müsste die Stimmabgabe vom Wohnort an den Arbeitsplatz verlegt werden. Vielleicht nach dem Vorbild der Räte. Die im November 1918 spontan in Fabriken, bei der Eisenbahn und der Armee gewählt wurden. Dadurch würden auch die Probleme der Wahlbezirke und der sozialen Repräsentativität gelöst.

Romain Hilgert
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