Türkischer Einmarsch in Syrien

Schluss mit dem Dörnröschenschlaf

d'Lëtzebuerger Land vom 18.10.2019

Die Welt bebt. Der Einmarsch der Türkei in Nordsyrien, um die Selbstverwaltung der kurdischen, arabischen und anderen Minderheiten dort zu zerstören, ist aus der Perspektive des Völkerrechts vergleichbar mit dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait. Nur diesmal ist der Bösewicht nicht irgendein Dritte-Welt-Diktator, sondern der Staatschef eines Nato-Staates.

Die Russen reagieren dementsprechend. Sie versuchen, den türkischen Einmarsch mit den ihnen zur Verfügung stehenden militärischen und diplomatischen Mitteln zu stoppen und rückgängig zu machen. Damit wollen sie sicherlich auch die Nato schwächen. Aber sie reagieren mit Taten – nur das zählt.

Die USA reagiert auch. Zwar liefert das undurchsichtige Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump vor dem Angriff der türkischen Armee genügend Material für psychiatrische Forschungen, aber auf Druck seiner Partei reagiert nun auch er. Washington hat Sanktionen gegen drei türkische Minister und zwei Ministerien in Ankara bekanntgegeben und unterstrichen, diese seien nur ein Warnschuss. An einem zweiten Sanktionsgesetz, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seine Entourage treffen soll, wird gefeilt.

Da fragt man sich: Was macht eigentlich die EU? Die Frage ist berechtigt, denn die Europäische Union ist mit ihren Interessen, ihrer geografischen Nähe und den laufenden Beitrittsverhandlungen mit Ankara von diesem Krieg direkt betroffen. Erdogan droht damit, übrigens nicht zum ersten Mal, die Grenze seines Landes zu öffnen und alle syrischen Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Die steigende Zahl der Flüchtlinge im Ägäis-Raum deutet darauf hin, dass er es ernst meint. Anstatt sich gegen diese Drohung eine Strategie zu überlegen, bangt die EU bemerkenswerterweise um genau den „Flüchtlingsdeal“, der sie erst recht zur Geisel Erdogans gemacht hat.

Um sich gegen Kritik an ihrer Zahnlosigkeit zu verteidigen, weisen europäische Politiker gern auf komplizierte Vereinbarungen. Zum Beispiel darauf, wie sie die Waffenlieferungen an ihren türkischen Partner regulieren wollen. Da geht es um „De-minimis-Regel“ und „Komponenten eines Landes in Rüstungsvorhaben“, also um Dinge, die die Europäer EU-müde machen. Eine klare Ansage, ob sie der Türkei weiterhin Waffen verkaufen werden oder nicht, fehlt.

Genauso wenig Klarheit herrscht in der EU darüber, ob sie neben militärischen, auch an wirtschaftliche und politische Sanktionen denken soll. Das Land, das seit 2008 immer autoritärer regiert wurde und dessen Regime spätestens seit dem Putschversuch 2016 faschistische Züge angenommen hat, bekommt jedes Jahr Milliarden Euro von der EU. Zum Teil sind es Gelder, die im Rahmen des „Flüchtlingsdeals“ ausgezahlt werden. Zum Teil Beitrittshilfen. Wenn nun aber Wirtschaftssanktionen verhängt werden sollten, muss es um zwei Dinge gehen, die auch in Europa einigen wehtun. Zum Einen müssten die Gespräche über eine Neuordnung der Zollunion mit der Türkei sofort beendet werden. Das würde die Hoffnung Ankaras im Keim ersticken, den EU-Handel in Zukunft zu seinen Gunsten manipulieren zu können. Das bedeutet jedoch auch, dass europäische Konzerne auf profitable Geschäfte verzichten müssten.

Viel wichtiger wäre aber überhaupt die Rolle europäischer Konzerne in der Türkei unter die Lupe zu nehmen. Denn sie sind es, die das Regime in Ankara maßgeblich stabilisieren helfen. Dabei geht es um viel Geld. Die Türkei ist ein Billiglohnland, in dem jeglicher Arbeitskampf auf der Stelle und notfalls mit Gewalt unterbunden wird. Es ist ein Unternehmerparadies. Nicht ohne Grund nennt das Präsidialamt der Türkei, also Erdogan, auf seiner Webseite Standortvorteile und lobt dabei den Mindestlohn von 483,62 US-Dollar.

Zuletzt wollte der deutsche Autokonzern Volkswagen ein neues Werk in der Türkei öffnen und dafür weitere Milliarden Euro in dem Land investieren. Mit dem Einmarsch türkischer Truppen in Syrien wurde das Projekt auf „Pause“ gestellt. „Mit Sorge“ beobachte man die Entwicklungen, so ein Konzernsprecher. Doch endgültig gestoppt ist das Vorhaben nicht, obwohl es mit Bulgarien und Rumänien Alternativen in der EU gibt.

Es sind aber nicht nur die Deutschen, die in der Türkei investieren und Milliarden verdienen. Der Anteil der EU-Unternehmen an den Direktinvestitionen in der Türkei beträgt mehr als 50 Prozent. Weil europäische Konzerne Lust auf noch mehr Profit haben, wird die Unzufriedenheit der EU-Bürgerinnen und -Bürger ignoriert. Die verstehen die Türkei-Politik der EU, die Appeasement-Politik nicht mehr. Das ist auf lange Sicht gefährlich.

Denn der Völkerrechtsbruch wird in der Türkei mit extrem nationalistischen und revanchistischen Tönen begleitet. Die ehemalige türkischstämmige sozialdemokratische Abgeordnete des deutschen Bundestags, Lale Akgün, beschreibt das, was Europa in Zukunft erwartet, sehr realistisch und plastisch. „Was mich besonders erschreckt, sind die Reminiszenzen an das Osmanische Reich“, schreibt sie, „die Sprache ist die des Osmanischen Reiches, an der syrischen Grenze spielt eine Janitscharen-Musikkapelle, es wird vom Dschihad gesprochen, in den Moscheen wird für die Soldaten gebetet. Und für den Sieg!“

Tatsächlich sprechen die gleichgeschalteten Medien im Land am Bosporus von der Eroberung eines Gebiets, das in der konservativen türkischen Seele ohnehin schon immer zur Türkei gehörte. Junge Türken träumen von Siegen wie im Jahr 1453, als die Türken Konstantinopel eroberten, oder von weiteren Eroberungszügen in aller Welt.

Die Koalition der Islamisten und Faschisten in der Türkei hat Blut geleckt. Wenn die Welt, auch und vor allem die EU, diesen Angriffskrieg nicht gleich stoppt, wenn sie diese türkische Aggression mit einem faulen Kompromiss durchgehen lässt, werden sie sich bestätigt sehen. Die nächsten Ziele sind in türkischen Medien schon längst im Gespräch: Zypern, Westthrazien, also Teile Griechenlands, und Armenien.

Spätestens mit dem Einmarsch in Syrien ist das Problem des „türkischen Faschismus“zu einem internationalen Problem geworden. Die Europäuer und die Europäische Union sollten endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.

Cem Sey
© 2023 d’Lëtzebuerger Land