Deutschland

Eine sehr ernste Geschichte

d'Lëtzebuerger Land vom 21.12.2018

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) sei eine singuläre Tat von drei Menschen gewesen, denen es eine Dekade lang möglich war, mordend und raubend durch Deutschland zu ziehen. Ohne behelligt zu werden und unter direkter Augenzeugenschaft des Verfassungsschutzes, des Inlandsgeheimdienstes Deutschland. Ordentlich auf- und abgearbeitet in einem Prozess mit Urteilsspruch. Doch in den letzten Tagen zeigte sich, dass Rechtsextremismus in Deutschland ein strukturelles Problem ist. Besonders anfällig dafür sind – wie die gesamte Gesellschaft – die Bundeswehr und die Polizei. Und damit die staatlichen Organe, die das Gewaltmonopol in der Gesellschaft innehaben.

Zu Beginn der Woche durchsuchten Ermittlungsbehörden Polizeidienststellen in Frankfurt am Main und im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf. Anlass dafür war, dass Polizistinnen und Polizisten – auch anderer Dienststellen – durch rechtes Gedankengut aufgefallen sein, was zunächst polizeiintern geprüft wurde. Doch der Fall nimmt durch die laufenden Ermittlungen eine weitaus größere Dimension an, als bislang bekannt war. Denn obwohl die Untersuchungen seit dem Sommer laufen, soll Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erst am vergangenen Freitag angeordnet haben, am Landeskriminalamt (LKA) Hessen eine spezielle Ermittlergruppe auf den Fall anzusetzen. Dort sollen nun erfahrene Polizisten und Juristen unter Federführung der Staatsanwaltschaft die Untersuchungen führen. Beobachtern nach geschieht diese Übertragung auf die nächst höhere Ebene aus Angst vor Vertuschungen im Polizeiapparat. Das LKA verwies hingegen auf die Erlasslage, wonach es verpflichtet sei, Ermittlungen zu übernehmen, wenn „ein Verfahren geeignet ist, das Ansehen der hessischen Polizei zu beschädigen“.

Aufgeflogen ist das rechte Netzwerk in der hessischen Polizei durch einen Drohbrief, der Anfang August bei der Anwältin Seda Basay-Yildiz eingegangen war. Sie hatte im NSU-Prozess Opferangehörige vertreten, engagierte sich aber auch für den Gefährder Sami A., der im Frühsommer aufgrund geltenden Rechts nicht nach Tunesien abgeschoben werden durfte – dann doch im Flieger gen Tunis saß und später nach einem Richterspruch zurückgeholt werden musste. In dem Brief wurde die Anwältin als „miese Türkensau“ beschimpft. Als Vergeltung für das Urteil im Fall Sami A. drohten die Verfasser damit, die Tochter von Basay-Yildiz zu „schlachten“. In dem Fax wird die Tochter mit Namen und Alter erwähnt, ebenso die Privatadresse der Anwältin genannt. Unterschrieben ist der Drohbrief mit „NSU 2.0“. Der Berliner Anwalt Mehmet Daimagüler, der ebenfalls Angehörige von NSU-Opfern im Münchner Prozess vertrat, zeigte sich empört: „Die meisten Nebenklage-Anwälte aus dem NSU-Verfahren haben Erfahrungen mit Drohungen.“ Dass nun auch ein Kind bedroht werde, habe eine neue Qualität.

Die Spur zum Drohbrief führte bald schon nach Frankfurt: Eine Polizistin im Ersten Polizeirevier der Stadt hatte über ihren Dienstcomputer das Melderegister zu Basay-Yildiz abgefragt – offenbar ohne jedweden dienstlichen Anlass. Diese Beamtin war mit weiteren Kollegen Mitglied einer WhatsApp-Gruppe, in der Hitlerbilder, Hakenkreuze und rassistische Parolen geteilt wurden. Gegen die Polizisten wird nun wegen Volksverhetzung und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ermittelt. Die nun vom Dienst suspendierte Polizistin gilt in Polizeikreisen als eher unbedarft. Im Revier hatte sie im Basisdienst die Aufgabe, die Datenstation zu besetzen, um aktuelle Anfragen ihrer Kollegen abzuarbeiten. Auch die übrigen vier Beamten, gegen die nun ermittelt wird, seien bislang nicht mit rechtsextremen Gedankengut aufgefallen. Niemand im Polizeirevier könne sich den Vorwurf erklären.

Weitere Tatvorwürfe würden hinzukommen, sagte am Mittwoch eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft, ließ dabei jedoch offen, um welche Vorwürfe genau es sich dabei handelt. Volker Bouffier, Hessens Ministerpräsident, zeigte sich besorgt: „Das ist eine sehr ernste Geschichte. Da muss man sehr sorgfältig drangehen. Und ich gehe davon aus, dass das sehr intensiv und umfassend aufgeklärt wird“, so Bouffier. „Ich kann noch nicht übersehen, wie das weiter geht. Aber es ist kein Zweifel, dass uns das sehr, sehr ernst angeht“, betonte der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU. „Wir werden da auch mit großer Entschlossenheit vorgehen.“

Für viele klingt dies eher nach Phrasen, denn nach Aufarbeitung. So auch für Daimagüler. Aus seiner Sicht rächt es sich nun, „dass das Thema NSU in der Politik abgehakt ist.“ Und in der Tat: Es hat keine wesentliche Debatte über institutionellen Extremismus stattgefunden. Das Ende des NSU-Prozesses am Münchner Landgericht war eine Randnotiz. Der Schuldspruch gegen Beate Zschäpe auf lebenslängliche Haft wegen zehnfachen Mordes und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung wurde aus Chronistenpflicht gemeldet, mehr nicht. Es wurde nicht offengelegt, inwieweit Mitarbeiter oder V-Männer des Verfassungsschutzes bei Morden anwesend waren. Konkret geht es dabei um den Mord an Halit Yozgat, Inhaber eines Internetcafés, Anfang April 2006 in Kassel. Ein V-Mann, dem später die Aussage im Prozess sowie dem Untersuchungsausschuss des Bundestags von seinem Dienstherrn untersagt wurde, soll während der Tat im Café des Opfers gewesen sein. Gerügt wird aber auch der Umgang der Politik im nun bekannt gewordenen Skandal. Die Opposition im Wiesbadener Landtag warf Innenminister Beuth vor, Informationen über die Ermittlungen nicht hinreichend an die Parlamentarier weitergegeben zu haben. Von rechtspopulistischen Politikern wird die Affäre als eine Lappalie abgetan. Der Zusammenhang zwischen Drohbrief und Datenabfrage sei nicht hinreichend bewiesen. Zudem sei es Privatsache, worüber die Polizisten in ihrer Freizeit sich austauschten. Ausgeklammert wird dabei die Möglichkeit, dass die Gesetzeshüter Informationen, an die sie in Ausübung ihres Berufs kommen, zu Straftaten nutzen können.

Martin Theobald
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