Eisenbahnpassagierverkehr

Großer Aufbruch

d'Lëtzebuerger Land vom 07.06.2007

Morgen Abend um 18.18 Uhr, wenn alles planmäßig klappt, gibt es am Luxemburger Hauptbahnhof ein Stück Zukunft zuerleben: Dann fährt ein TGV-Zug aus Richtung Straßburg ein. Ein Sonderzugmit einer Luxemburger Delegation, die dort an der Fête inaugurale européenne zur Inbetriebnahme des TGV Est teilgenommen haben wird. Ehe regelmäßigeTGV-Züge zwischen Luxemburg und Straßburg verkehren, werden allerdings noch gut acht Jahre vergehen. Erst 2010 soll die zweite Hochgeschwindigkeits-Ausbauphase zwischen Baudrecourt in Lothringen und dem Straßburger Vorort Vendenheim beginnen und 2015 abgeschlossen sein. Erst dann erhält Luxemburg seine täglichen vier TGV-Verbindungen nach der elsässischen Metropole und zurück.

Ist das schlimm, angesichts der neuen, superschnellen Anbindung an Paris fünf Mal amTag? – Die ist ohne Zweifel attraktiv. Zwei Stunden und fünf Minuten Fahrzeit gegenüber drei Stunden und 45Minuten bisher sind eine enorme Einsparung. Anstatt vier, wie ursprünglich vorgesehen im luxemburgisch-französischenAbkommen, sind fünf Direktverbindungen zwischen Luxemburg und Paris herausgesprungen, in Metz besteht jeweils Anschluss zu weiteren TGV-Zügen von und nach Paris. Und nachdem am Mittwoch CFL-Direktion und Transportgewerkschaften sich über die Arbeitsbedingungen bei der Bahn sowie Neueinstellungen bei den CFL und der CFL Cargo einigten, wird wahrscheinlich keinEisenbahnerstreik in Luxemburg die Lust amTGV trüben.

Aber erst ab 2015, wenn Hochgeschwindigkeit auch zwischen Lothringen und Straßburg möglich ist, wird Luxemburg voll an dem teilhaben können, was der TGV Est-européen, wie er voll ausgeschrieben heißt, eigentlich sein soll: ein Ansatz zu einem länderübergreifenden, integrierten Schnellverkehr. Nicht nurwird ab Sonntag Paris von 20 französischen Bahnhöfen aus schneller zu erreichen sein, sondern auch von zehn im Ausland gelegenen. Neu ist nicht nur die schnellere Verbindung nach Luxemburg, sondern etwa auch die nach München über Stuttgart oder nach Zürich über Basel. Der TGV Est eröffne Frankreich „un corridor ferroviaire vers l’Est et le nouveau centre de gravité de l’Union européenne, élargie à l’Europe centrale“, teilte die Nachrichtenagentur AFP gleich zweimal, am Dienstag undam Mittwoch, stolz der ganzen Welt mit. Zu Recht. Doch erst in acht Jahren wäre es denkbar, dass beispielsweise ein TGV zwischen Luxemburg und München via Straßburg verkehren könnte. Zumindest wird dann ein Reisender aus Luxemburg innerhalbvon 85 Minuten anstatt heute 124 Minuten nach Straßburg gelangen,umvon dort ebenso schnell weiter nach Süddeutschland oder in dieSchweiz fahren zu können, und vielleicht noch weiter, wie etwa in die Slowakei oder nach Italien.

Dass für ein verbessertes Fernreiseangebot ab Luxemburg so viel vom TGV Est abhängt, illustriert, wie schwer es Luxemburg hat, von den leistungsfähigen europäischen Schnellverkehrsnetzennicht abgehängt zu werden, und welche Anschlussprobleme perBahn es vom Finanzplatz Luxemburg mit wichtigen Metropolen Europas gibt. Die Schnellstrecke TGV Est ist ja nur ein weiterer Abschnitt in jenem weiträumigen Ring aus Hochgeschwindigkeitsstrecken, der sich allmählich um Luxemburg schließt: Im Süden und Westen ist die Umfahrung zwischen Baudrecourt, Paris und Brüssel schon perfekt, weiter nördlich ist sie es zwischen Brüssel, Lüttich und Köln demnächst, und zwischen Köln und Frankfurt ist bereits Hochgeschwindigkeit möglich. Ist das in acht Jahren auch zwischen Baudrecourt und Straßburg der Fall, bliebe nur noch zwischen Straßburg und Frankfurt für grande vitesse zu sorgen; schnell,wenn auch nicht ganz schnell, kann zwischen beiden Städten aber schon jetzt gefahren werden. 

Zugang zu diesen Strecken zu bekommen, ist nicht nur strategischüberaus wichtig. Ihn nicht zu haben, wird gefährlich ab 2012, wenn der internationale Personenverkehr EU-weit voll liberalisiert sein, das Rentabilitätsdenken der Bahnen sich weiter verstärken und die Bereitschaft wachsen wird, unrentable Verbindungen aufzugeben. Um so mehr, wenn unzureichende Infrastruktur die Qualität des Angebots drückt. Wie gut Luxemburg dieser Gefahr begegnen kann, dürfte sich noch in diesem Jahr abzeichnen, diesmal im Hinblick auf bessere Verbindungen nach Deutschland.

Denn seit Ende letzten Jahres die Arbeiten an der Bahnstrecke zwischen Brüssel und Ottignies begannen, ist mit Eurocap Rail das wichtigste Projekt für eine bessere Verbindung mit Belgien mit Zeithorizont 2014 definitiv unterwegs. Zwar wird es nur dieMinimalvariante davon geben. Eine imHerbst 2005 imAuftrag von SNCB und CFL erarbeitete Marktstudie stellte fest, ein Ausbau auf hohe Geschwindigkeiten komme viel zu teuer zu stehen und müsse mit der TGV-Verbindung zwischen Brüssel und Straßburg via Paris konkurrieren. So dass nun die Reisegeschwindigkeit sich in Belgien nur auf 140 bis 160 Stundenkilometer erhöhen wird, aufLuxemburger Seite zwischen Luxemburg-Stadt und der Grenze auf 160. 

Laut Plansoll das zu einer Zeitersparnis von 15 bis 20 Minuten führen; weitere zehnMinuten sparen Reisende nach Straßburg in Luxemburg, wenn Züge aus Brüssel und zur Weiterfahrtnach Straßburg künftig im Peripheriebahnhof Cessingen halten:im Unterschied zum Hauptbahnhof wird dort kein Lok- undRichtungswechsel fällig sein. Worauf die Marktstudie zu EurocapRail erneut hingewiesen hatte, war die Tatsache, dass Luxemburg ungeachtet allen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstumsvon eher strukturschwachen und dünn besiedelten Regionen umgeben ist. Das Problem ist nach wie vor das, eine kritischeMasse an Bahnbenutzern stellen zu können – und eine knappe halbeMillion Einwohner reicht dafür offenbar nicht aus.

Diese Frage wird sich ebenfalls stellen, wenn eine deutsch-luxemburgische Arbeitsgruppe noch bis zu den Sommerferien über die Qualität der Strecke nach Trier und Koblenzberät, um anschließend zu empfehlen, in welchem Umfang die Strecke renoviert werden sollte. Die Mängelliste auf deutscher Seite ist lang. Zwischen Igel und Karthaus verläuft die Strecke lediglich eingleisig, der schlechte Zustand der Konzer Brücke erzwingt eine Langsamfahrt, eine weitere Brücke ist ebenfalls nicht gut in Schuss. Bereits zwischen 2000 und 2002 war viel über Renovierungsfragengesprochen worden, und es hieß, Neigetechnik-Züge könnten zwischen Luxemburg und Frankfurt verkehren und die Fahrzeit zwischen den beiden Finanzplätzen von aktuell drei Stunden und 50 Minuten auf unter drei Stunden senken.

Es kam jedoch weder zu konkreten Renovierungsprojekten, noch zu einer Einigung, wer wofür zahlen sollte. Angesichts der vielen potenziellen Baustellen hatte der vorige Transportminister Henri Grethen eine finanzielle Beteiligung Luxemburgs an den Arbeiten auf deutscher Seite stets abgelehnt. Sein Nachfolger Lucien Lux will dagegen gar nicht um Geld gefragt worden sein. Was möglicherweise mit einer dank TGV-Anbindung und laufenden Arbeiten an Eurocap Rail gestiegenen Attraktivität Luxemburgs zu tun haben könnte.

Vielleicht aber ist von deutscher Seite eine umfangreiche Renovierung doch nicht gewollt – und man einigt sich am Ende auf eine Variante, die eher auf ein verbessertes Angebot an Trierer Grenzgänger abzielt als auf eine schnellere Verbindung nach Koblenz zur Weiterfahrt nach Frankfurt oder Norddeutschland.Die Entscheidungen der Arbeitsgruppe bleiben im wahrsten Sinnedes Wortes abzuwarten. 

Für den Fernverkehr strategisch viel wichtiger wäre für Luxemburg auch eine schnelle Bahnverbindung nach Saarbrücken. Dort halten nicht nur ICE- und TGV-Züge; von Saarbrücken aus erreicht man rasch den Bahnhof Mannheim, den wichtigsten Bahnknotenpunkt in Westdeutschland. Die Möglichkeit zur Einrichtung einer solchen Verbindung wird derzeit gemeinsam mit der saarländischen Landesregierung studiert. Dabei kommen alle Optionen auf den Tisch, vom Neubau entlang der Saarautobahn bis hin zur Nutzung bestehender Gleiswege. Mit Sicherheit wird sich auch hier die Frage nach der Auslastung stellen. Gegenwärtig betreiben die CFL viermal täglich eine Busverbindung zum Saarbrücker Hauptbahnhof; dort besteht Anschluss zu ICE-Zügen. Im Schnitt jedoch nehmen nur zwölf Fahrgäste diese Busse – wahrscheinlich weniger, als es den Einsatz eines Zuges, geschweige den Neubau einer Bahnstrecke rechtfertigen würde.

Doch wenn andererseits im öffentlichen Nahverkehr die Erkenntnisgilt, dass eine massive Steigerung der Qualität des Angebots nötig ist, um bedeutend mehr Nutzer anzuziehen, trifft das ja für den Fernverkehr womöglich ebenfalls zu. Wohin die Reise insgesamt gehen könnte, will Transportminister Lux nach den Sommerferien umreißen. Gegenwärtig sind derart viele Schienenverkehrsprojekteunterwegs, dass Prioritäten gesetzt werdenmüssen. Und zusätzliche Finanzierungsquellen müssen voraussichtlich ebenfalls erschlossen werden.

 

 

Peter Feist
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