Trauerarbeit statt Architektur

Gibt es ein Leben nach der Architektur?

d'Lëtzebuerger Land vom 13.11.2008

Wenn Aaron Betsky, Chefkurator der bis zum 23. November dauernden Architekturbiennale Recht hat, dann gibt es in Luxemburg sehr wenig Architektur und sehr viel Trauerarbeit: „Gebäude sind das Grab der Architektur, das was bleibt von unserem Begehren, eine andersartige Welt zu bauen, eine bessere Welt, die uns andere Möglichkeiten eröffnet als die Alltagsroutine.“1 

Mit diesem Anspruch gab er der Biennale den gewagten Titel Out There: Architecture Beyond Building, zu Deutsch „Da draußen, Architektur jenseits des Bauens“. Was darunter zu verstehen ist, versuchen die Ausstellungen zu illustrieren. Während Arsenale und Pavillon Italia nach dem Konzept von Betsky gestaltet wurden, haben die nationalen Beiträge wie immer das Thema sehr unterschiedlich interpretiert. 

Einige Länder haben Betskys These aufgegriffen, dass „Architektur nicht gleich Bauen ist“, sondern „die Art über Gebäude nachzudenken und zu sprechen.“ (ibid) Das hat sich in verschiedenartigen „Text- und Gedankengebäuden“ ausgedrückt. Der von Saskia van Stein kuratierte niederländische Pavillon stellt ausschließlich Diskurse über Architektur aus, in Form von Videodokumentationen auf Kleinbildschirmen. Rietvelds Pavillon wurde zu diesem Zweck in eine Art Großraumbüro umgewandelt.

Uruguay hat ein Buch über seine Architektur produziert, das neben sehr kleinen Flatscreens auf Büchergestellen präsentiert und an das Biennalepublikum verteilt wird. Der luxemburgische Beitrag ist mit vier Fragen und vierundvierzig Antworten ein reiner Textbeitrag. In dieser Art ist er radikaler als der brasilianische, der hinter dem Slogan „No Architects“ auf der Fassade, eine Menge Textbeiträge von Nutzern der Architektur ausstellt, aber zusätzlich zwei Fotos zeigt. Über Architektur und das Leben von Gebäuden denkt auch der polnische Beitrag nach. Allerdings nicht mit Texten, sondern mit Fotos von heute und Fotomontagen, welche äußerst realistisch dieselben Gebäude in fünfzig Jahren darstellen: Eine Bibliothek wird zum Einkaufszentrum, eine Kirche zum Schwimmbad, und eine „Gated Community“ zu einer Müllhalde. Einer der wenigen Beiträge mit Humor! Dafür bekam Polen den goldenen Löwen für den besten Pavillon.

„Architektur ohne Architekten“ findet man an verschiedenen Orten der Biennale: Auf dem Gelände des Arsenale präsentiert Totan Kuzembaev eine Jurte, in deren Innenraum man dann das Auto des Nomaden entdeckt, dekoriert mit mongolischen Motiven. Kanada dokumentiert unter anderem die Iglus und Hütten der Ureinwohner. Ägypten zeigt, wie man mit traditionellen Lehm-Stroh-Ziegeln baut, und China zeigt Fotos anonymer Ar­chi­tektur aus der Geschichte der Volks­republik. Ein zweiter Teil des chinesischen Beitrags besteht aus sechs länglichen Konstruktionen vor Ort, sehr elementar aus Karton oder gestapelten Betonziegeln gebaut. Frappant, dass die Beiträge Chinas auf den Architekturbiennalen immer ein ganz anderes Bild zeigen, als die Klischees der High-Tech-Boom-Towns Schanghai, Canton oder Shenzhen. Ein Ausdruck von Nostalgie?

Estland entschied sich für ein geopolitisches Statement und baute kurzerhand eine 63 Meter lange Gas-Pipeline in die Giardini. Das Rohr verbindet ideell den deutschen mit dem russischen Pavillon. Die Geste sitzt. Unwillkürlich dachte ich an Andrej Kourkows Roman Pinguine frieren nicht2, in dem tschetschenische Mafiosi eine Gas-Pipeline anzapfen, um ein geheimes Krematorium zu betreiben. Tagsüber verbrennen sie dort gegen Bezahlung gefallene russische Soldaten und nachts die Leichen tschetschenischer Rebellen.

Überflüssig war allerdings, in Venedig zusätzlich eine Videokamera in dem Rohr zu verstecken, und die Videoaufnahmen im Arsenalw abzuspielen. Wir hätten verstanden, auch ohne den Artikel in der Begleitpublikation, der verkündet: „Ceci n’est pas une pipe“.

Abgesehen von dieser Kritik hat der estnische Beitrag das Verdienst, einen Teil des Außenraums der Biennale neu zu gestalten. Das klingt banal, da Raumgestaltung ja eigentlich das ureigene Terrain der Architektur sein müsste. Dass dem nicht so ist, beweist der Raum des Parks zwischen den Pavillons, der diesmal ebenso chaotisch und unübersichtlich gestaltet ist, wie der öffentliche Raum in den meisten Städten. Nur wenige Beiträge überraschen uns mit einem starken Raumerlebnis. Dazu gehört die Arbeit der Landschaftsarchitekten Gustafson Porter LTD und Gustafson Guthrie Nichol LTD, die hinter dem Arsenale einen neuen Park mit Gemüsegarten eingerichtet haben, ähnlich wie die Künstler Fischli und Weiss vor elf Jahren für Skulptur. Projekte in Münster3.

Das Büro Geers-Van Severen hat den belgischen Pavillon mit einer fünf Meter hohen Metallwand vom Rest der Biennale abgeschottet, ihn leer gelassen und den Boden innen und außen mit Konfetti bedeckt. Resultat: Man hat den Eindruck, sich in einem virtuellen Raum oder einer Computersimulation zu befinden. Die Beiträge Portugals und Schottlands greifen in den Stadtraum ein und machen die Architektur der Stadt Venedig selbst zum Thema ihrer Aus­stellung. Der Architekt Eduardo Souto de Moura und der Künstler Angelo de Sousa haben einen riesigen Spiegel an der Fassade des portugiesischen Pavillons angebracht. Darin spiegeln sich der Canal Grande, das gegenüberliegende Stadtpanorama und die vorbeifahrenden Vaporettos. Schottland hat vor dem Bahnhof eine riesige Holztreppe installiert, die als Tribüne fungiert, von der aus man das Stadtpanorama beobachtet.

„Optimiste“ strahlt eine große Neonschrift auf dem Dach des französischen Pavillons. Hier merkt man am besten, dass die Biennale vor der Finanzkrise geplant wurde. Généro­Cité wurde von Arcelor-Mittal mitgesponsort. In einem Text in der Eingangshalle sinniert Präsident Nicolas Sarkozy über Großzügigkeit und Optimismus, Ethik und Ästhetik, neue Horizonte und „Grand Paris“. Abgesehen von diesem peinlichen „ideologischen Überbau“, wurde die Gelegenheit genutzt, das exakte Gegenteil von Betskys Thema auszustellen, nämlich jede Menge realisierte und geplante Gebäude. Mit dieser Haltung steht Frankreich allerdings nicht allein da: Auch Russland konnte es nicht lassen, mit Bauprojekten zu protzen, ebenso Spanien, Österreich, Großbritannien, Korea, Taiwan, um nur einige aufzuzählen.

Aktueller wirken da jene Beiträge, die sich mit den Problemen und Sorgen der Menschen beschäftigen. Tschechien und die Slowakei haben recherchiert, was man sich, je nach Wohnsituation und sozialer Lage, zum Essen leisten kann. Das Resultat ist in 15 Kühlschränken ausgestellt. Italien hingegen wirft das Problem der neuen Wohnungsnot auf. Leider beschränken sich die Lösungsvorschläge auf die Ausstellung von zwölf eher uninteressanten Architekturprojekten. In Venezuelas Pavillon fordert ein Plakat „Basta, Schluss mit den Luxusikonen!“ (Gemeint sind extravagante Hochhäuser.) „Die Welt des 21. Jahrhunderts braucht eine verantwortliche Architektur“. Gezeigt werden eine Dokumentation und ein Film über die soziokulturellen Errungenschaften des Landes der letzten Jahre. Beeindruckend, aber was eine verantwortungsvolle Architektur sein soll, wird nicht geklärt. 

Paradoxerweise gibt der Pavillon von Venezuelas Erzfeind USA die kohärenteste Antwort auf diese Frage. Das in San Diego ansässige Estudio Teddy Cruz hat den gesamten Pavillon mit einem Foto der US-Grenzsperre zu Mexiko zugehängt. In die Leinwand sind Streifen geschnitten, durch die man ins Innere des Pavillons vordringen kann. Teddy Cruz ist Architekt und Professor für Architektur an der Universität San Diego. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dieser 96 Kilometer langen Grenzmauer, die in der Peripherie von San Diego beginnt und bis zum Rande von Tijuana in Mexiko reicht. 

Anders als Rem Koohlhaas, der in jungen Jahren die Berliner Mauer als Bauwerk analysierte, interessiert Cruz sich für den grenzüberschreitenden urbanen Konflikt mit sozia­len, ökologischen, politischen Aspekten, die er zuspitzen möchte. Radicalizing the Local ist der Titel seines Beitrags. Im Innern des amerikanischen Pavillons werden 15 weitere Initiativen vorgestellt, bei denen Architekten von New York bis Detroit, von Houston bis San Francisco gesellschaftlich relevante Projekte entwickeln, und dies oft gemeinsam mit Künstlern, Wissenschaftlern und Aktivisten. Mit seinem klaren und übersichtlich präsentierten Diskurs wirkt der amerikanische Beitrag wie eine nationale Version des Displays der Ausstellung Experimental Architecture im Pavillon Italia.

Arsenale und Pavillon Italia: Die zwei Seelen der experimentellen ArchitekturDas letzte Jahrzehnt war geprägt von einem weltweiten Boom der Baubranche, der erst jetzt gebremst wird durch Finanzkrise und Rezession. Als ein Beispiel kann das Büro des Sohns von Hitlers Leibarchitekten Albert Speer [&] Partner gelten, das 2004 den von der Stadt Luxemburg organisierten Wettbewerb für das Areal der Porte de Hollerich gewann. Das Büro plant und baut unter anderem die Infrastruktur für die German Town neben Schanghai, das Prinz Abdulaziz Viertel in Saudi Arabien und die 5 000 Quadratmeter großen Satellite Cities Abuja in Nigeria. Das französische Büro Architecture Studio hingegen, plant für die afghanische Re­gierung eine 700 000 Einwohner-Stadt neben Kabul. Diese Stadt soll „ökologisch“ werden, „traditionell“, das heißt ohne öffentliche Plätze, „ethnisch gemischt“, aber „sozial getrennt“: „…un fort classement des quartiers selon la richesse.“4

In der Architekturwelt hat der weltweite Bauboom nicht nur Begeis­terung hervorgerufen. Unbehagen, kritisches Überdenken der Architekturpraxis und der Wunsch, aus den engen Bedingungen des Bauens auszubrechen, äußerten sich bereits anlässlich der Architekturbiennale Venedig 2004. Belgien erhielt damals den goldenen Löwen für den besten Pavillon. Es zeigte mit den Medien der Fotografie und des Videos eine an­thropologische Analyse der ex-kolonialen Metropole Kinshasa. Zugleich kam es in diesen Jahren zu einem Crossover von Architektur und Kunst, den man sehr gut in verschiedenen internationalen Architekturzeitschrif­ten, wie Domus, mitverfolgen konnte. Bereits 1997 hatte die Dokumenta X in Kassel dem Beitrag des Architekten Rem Koohlhas große Wichtigkeit bei­gemessen. Seither sind immer häufiger Architekten auf Kunstausstellungen vertreten.

Die Hauptausstellung Betskys fasst die Entwicklung dieser zum Teil wider­sprüchlichen Tendenzen sehr gut zusammen. Im Arsenale und im Pavillon Italia wird klar, dass die so genannte experimentelle Architektur (mindestens) zwei Seelen hat. 

In Masters of Experiment (Frank O. Gehry, Herzog [&] de Meuron, Morphosis, Zaha Hadid, Coop Himmel­b(l)au und Rem Koohlhaas) sollen die gestalterischen Fähigkeiten von Architekten „beyond building“ gezeigt werden. Auch die Corderie im Arsenale zeigen Werke von Architek­ten, die nichts mit Bauen zu tun haben: skulpturale Rauminstallationen, interaktive Installationen, Filme, Video-Installationen, Design-Objekte, Raumdekorationen. Diese Werke sind von sehr unterschiedlicher Qualität, denn nicht jeder hat die gestalterischen Fähigkeiten von Gehry und Hadid, oder den Witz von Atelier BowWow. Architektur und Kunst, ein komplexes Thema, bei dem es auch in Luxemburg jede Menge Missverständnisse gibt, wie die Lokalgeschichte der letzten Jahre zeigt.

Arsenale und Masters of Experiment untergraben teilweise den Anspruch, eine Biennale „jenseits des Bauens“ zu sein. Das entging weder der italie­nischen Tageszeitung Il Sole 24 Ore, die unter dem Titel „Utopie oder Parodie“ darauf hinwies, dass es sich hier meist um Architekten handelt, „die für Aufträge wie dem Stadion in Beijing oder den neuen Museen in Abu Dabi sämtliche politischen Bedenken über Bord werfen“, noch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die da­ran erinnerte, dass die globale Veränderung der Stadtlandschaften ein Re­sultat ist „jener ökonomischen Schlach­ten, an denen Architekten mittun, wenn sie nicht gerade einen Beitrag für die Biennale vorbereiten“.5

Im Pavillon Italia zeigt Kurator und Architekt Emiliano Gandolfi mit 55 Gruppen und Studios unter dem Titel Experimental Architecture das wohl interessanteste Display dieser Biennale. Noch nie war die Ausstellung hier so dicht, noch nie brauchte man so lange, um alles aufzunehmen. Gandolfi hat, wie 26 andere Teilnehmer der Biennale, ein „Manifest“ verfasst, das im Arsenale als Text und Video ausgestellt ist. In diesem Text schlägt er eine neue Definition der Rolle des Architekten vor. Damit agiert er in der „Tradition“ des Architekten Yona Friedmann, der bereits vor 30 Jahren eine radikale Umwandlung der Rolle des Architekten vorschlug6. Der „Architecte Créateur“ solle zum „Architecte Conseiller“ werden, ei­nem Architekten, der den Menschen hilft, ihr „Habitat“ zu entwerfen und zu bauen, ohne sie zu Stereotypen zu nötigen. Da heute nur sechs Prozent der Bauten weltweit von Architekten gebaut werden, birgt Friedmans Konzept der „Autoplanification“ ein enor­mes Potential für Architekten und die Bewohner des Planeten.

In Experimental Architecture zeigt Gandolfi Architekten wie Dennis Kaspori, der sich  mit der Künstlerin Jeanne van Heeswijk in den Niederlanden für die Verteidigung des öffentlichen Raums einsetzt, FAST, die aktiv für ein palästinensisches Dorf in Israel arbeiten, oder Teddy Cruz, der in den Slums von Tijuana Wohnungen mit mexikanischen Wanderarbeitern baut. Als Baumaterialien dienen Abfallprodukte aus San Diego, die über die Grenze nach Süden geschafft werden. Das Projekt von Druot, Lacaton [&] Vassal fordert, in Frankreich die „HLM“ nicht abzureißen. Sie zeigen, wie man aus ihnen von Licht durchflutete Wohnungen macht. Allerdings riskiert das Projekt dazu beizutragen, sozial schwache Schichten weiter aus der Stadt zu drängen, wenn die Marktgesetze ungezügelt spielen. Wenn der ökologische Diskurs nicht stark an einen sozialen und politischen Diskurs geknüpft wird, ist das Resultat unweigerlich eine verschärfte soziale Segregation. Ein dubioses Projekt ist der ausgestellte „Horizontale Wald“, ein begrüntes Hochhaus, entworfen von Studio Boeri. Als ökologisches Projekt präsentiert, entzieht dieser Bau in Wirklichkeit den Einwohnern des Quartiers in Mailand Grünflächen und öffentlichen Raum, um darauf „grüne“ Luxuswohnungen für Besserverdienende zu bauen. 

In dieser Biennale präsentieren sich zahlreiche Architekturprojekte unter dem Label „grün“, „ökologisch“ oder „nachhaltig“. Dieses Phänomen wurde von der Presse „Ökomanie“ ge­tauft, eine oberflächliche, unseriöse, man könnte auch sagen dekorative Beschäftigung mit Nachhaltigkeit und Ökologie. In der Tat besteht die Gefahr, dass der ökologische Diskurs oft nur als Vorwand dient, um weitere Grünflächen zu betonieren und die style="font-style: italic;"[gt]Gentrification7 von billigen Wohngebieten in den Städten zu beschleunigen. 

Experimentieren kann sehr spannend sein, wird aber an den konkreten Endresultaten zu messen sein. In dem Sinne lassen wir El Lissitzkis Spruch nicht gelten, der besagte, dass Architektur nur an Architektur zu messen sei8. Und dass der Mensch nur das Maß aller Schneider sei, nicht aber das Maß aller Dinge.

1 Aaron Betsky, Pressemitteilung der Biennale, September 2008 2 Andrej Kurkow: Pinguine frieren nicht, Diogenes Verlag, Zürich 20033 Fischli und Weiss hatten dieses Projekt ursprünglich für den öffentlichen Raum auf dem Kirchberger Plateau vorgeschlagen. Eines der vielen Projekte, die Kasper König dem Fonds Kirchberg erfolglos unterbreitet hatte, bevor er die Zusammenarbeit aufkündigte.4 Il Sole 24 Ore vom 14. September 2008; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. September 2008 5Le Monde vom 17. September 20086 Yona Friedman: L’architecture de survie – Une philosophie de la pauvreté, Éditions de l’Éclat, 20037 Der soziologische Begriff beschreibt die Umgestaltung von einfachen Wohngebieten in Viertel für die „Upper Class“. Siehe dazu : Atlas des nouvelles fractures sociales en France, S. 18-19, Éditions Autrement, Collection Atlas/Monde 2006   8 El Lissitzky: „Der Mensch ist das Maß aller Schneider“ in Isvestià Asnova, Moskau 1926

Bert Theis
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