Der magische Moment, an dem sich der Himmel öffnete

Tote Kinder

d'Lëtzebuerger Land vom 11.09.2015

In der Nacht wird das ertrunkene Kind angeschwemmt, der Facebook-Surferin ins Blickfeld geschwemmt. Es liegt da, einfach so, entspannt. Zu entspannt. Und zugleich, alles sträubt sich in der mit allen Wassern gewaschenen Facebook-Surferin, wie auf einem Präsentierteller präsentiert. Am Morgen zum Frühstück liegt das ertrunkene Kind zu Füßen, vor Augen. Dann stündlich, auf allen Kanälen. Die Fernsehmoderatorinnen schlucken, die Politiker schauen traurig. Dann die Geschichte, noch einmal. Das tote Kind, der zerstörte Vater, das kaputte Kobane. Eine Tante weint auf einem fernen Kontinent. Der Vater vor Gräbern in einer Landschaft aus Staub.

Ein gewaltiger Liebesreflex erfasst die Konsumentinnen der medialen Realitätshäppchen. Es gibt Montagen und Collagen mit dem Kind, das Kind wird zum Emblem, zum Logo, zum Symbol.

Und alle sind betroffen, erschüttert, wach gerüttelt. Schon wieder. Gerade erst waren alle aus allen Wolken gefallen, Politikerinnen rangen um Fassung, Journalisten um Worte. Massengrab, Massenmord. Hier, bei uns, mittendrin. Mitten in Europa, so lautet das Mantra der Fassungslosen. Mitten in Europa stinkt auf einmal der Tod zum Himmel. Inmitten von Gemüsefeldern, direkt neben einem Designer Outlet für Fashion Hunters. Nicht draußen vor der Tür, vor den Toren und Stacheldrähten und Wassergräben der Festung, wie es sich gehört. Das Grauen hat es bis nach Europa geschafft. Es ist im Wagen über eine europäische Autobahn gefahren und hat geparkt.

Die ineinander verkeilten Leichen waren aber nicht so fotogen wie das angeschwemmte Kind, das Grauen zu sichtbar, nur wenige Medien zeigen einen Ausschnitt.

Wach rütteln, erschüttern, rechtfertigen sich diese, wenn die Grundsatzfragen gestellt werden. Würde des toten Menschen, Tabu der Totenruhe, das NoGo, mit Aufnahmen von Ermordeten Kasse zu machen.

Das sagen auch die, die das Kind, dessen Gesicht wir nicht sehen, es ist dem Sand zugewandt, und vielleicht ist das auch der Grund, dass wir das Bild aushalten, auf die Titel- und Facebook-Seiten bringen. Das Kind, das so anrührt, weil ein Hauch des Lebens noch spürbar ist, weil es da liegt wie zufällig, schläft es nicht doch vielleicht? Zugleich perfekt wie ein Arrangement. Wie Kunst.

Und es dauert nicht lange, und in den sozialen Medien tauchen die Bilder anderer toter Kinder auf. User bombardieren einander mit Fotos toter Kinder. Ein Konkurrenzkampf mit den Bildern toter Kinder entsteht, um das Liken toter Kinder.

Warum dieses, und nicht jenes, warum ist dieses tote Kind das Liebkind, warum nicht jenes? Warum nicht das palästinensische Kind, warum nicht das christliche Kind, warum nicht das jüdische Kind, warum nicht das Mädchen im rosa Röckchen? Das Mädchen im rosa Röckchen hat keinen Kopf mehr.

Ich weiß nicht, welche Mechanismen sich einschalten bei all diesen Aktivitäten und Passivitäten. Bei dem Teilen und Mitteilen und Liken, bei dem Schnellwegschalten, dem Raus hier, bitte schnell zu einem Dalai Lama, zu einem Hund mit Hut, zum Mailänder Dom. Ich weiß nicht, was uns alle steuert beim Herumtreiben inmitten des Strandguts des Netzes. Aber das unverhüllte Grauen macht uns Angst, wir hauen ab, ein von Schwären übersäter, herum kriechender Bettler kriegt nichts, Abscheu und Scheu treiben uns in die Flucht.

Ich weiß auch nicht, warum welches Bild welche Kraft entwickelt, die Kraft, dass das Elend von Krieg und Flucht einen Namen kriegt, eine Gestalt, die Gestalt eines unschuldigen Leidens. Die Gestalt des gestrandeten Kindes als ein Symbol des Schiffbruchs der Weltpolitik. Oder ist das weiter nichts als ein sentimentaler Missbrauch eines jungen Geschöpfes, oder, schlimmer noch, Kindesmissbrauch mit Message und Kitsch?

Oder hat dieses berührende Bild doch vielleicht auch zu dem magischen Moment geführt, an dem sich, Sesam-öffne-dich, Grenzen und Herzen geöffnet haben? An dem Merkelmonster zu Mother Merkel mutierte, sie lässt alle zu sich kommen, die Elenden und mit nichts Beladenen. Der magische Moment, an dem sich der Himmel öffnete, überall waren Menschen.

Michèle Thoma
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