Europa-Net

Digitale Autonomie

d'Lëtzebuerger Land vom 24.01.2014

Vor einem halben Jahrhundert wagte es der Mensch, die Erde zu verlassen, Grenzen zu überschreiten und den Göttern gleich das Universum zu erobern. Aus der Distanz heraus erschien ihm der Globus klein, beherrschbar, als ein Spielball im Weltall, als sein Spielfeld im Dasein. Es brauchte eine Generation an Zeit und die digitale Revolution, die es dem Menschen ermöglichten ein Netz über seine Erde zu spannen, damit er zu jeder Zeit an jedem Ort sein kann. Wenn auch nicht physikalisch, so doch informativ, in Bild, Wort und Daten. Das Internet erschien vielen als neue, als letzte Herausforderung, als Raum frei von Recht, Biografien, Wahrheit und Werten. Als unbewachter Spielplatz.

Doch die Enthüllung der Spähprogramme der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste zeigt, dass dem nicht so ist. Die Internetnutzer zeigen sich entrüstet und empört. Vor allem in Europa, das sich auf der guten Seite des Netzes wähnt, als selbstbezogener Mahner und Rufer in der virtuellen Welt: Gerade Europa müsse nach digitaler Selbstbestimmung streben. So fordert etwa Jakob Augstein, Kolumnist des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, „ein europäisches Datenschutzrecht, eine europäische Suchmaschine, kontinentale Server, Datenleitungen und Standards unter Kontrolle europäische Institutionen“. Auch für diese Institutionen hat er bereits ein Pflichtenheft aufgesetzt: „Institutionen, die uns allen Rechenschaft schuldig sind.“ Mit „uns“ meint er alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union. So viel Europa war noch nie im weltweiten Netz. Sein Europäisierungsaufruf gipfelt in der Empörung, die Daten doch endlich nach Hause zu holen. Da sollen sie hin. Nicht nach Europa, sondern nach Hause. Zurück zum User, zurück aus der Virtualität in die Realität, aus dem unfassbaren Datenstrom ins anfassbare Sein.

Aber: Haben Daten einen Pass? Gar einen Reisepass? Gibt es für Daten irgendeine Grenze? Die sie zu beachten haben? Gibt es für Daten ein Zuhause – abgesehen vom Server, auf dem sie liegen? Die Forderung nach einer digitalen Autonomie ist ein Anachronismus erster Güte: Man kann in einem weltweiten Netz, das in seiner Grenzenlosigkeit jahrelang gehegt und gepflegt wurde, nicht rückwirkend Limits setzen oder Beschränkungen einführen. Dies klingt nach einer gepflegten Abschottung, nach einem informationspolitischen Nationalismus auf kontinentaler Ebene, die von den Nutzern und Surfern im Internet schon längst überschritten werden – im positiven, wie im negativen Sinne. Das Geschrei um die Europäisierung des Internets ist unerträglich. Chauvinistisch. Revanchistisch. Wenn es eine Internet-Gesetzgebung geben muss – und es muss sie geben –, dann kann dies nur im globalen Rahmen geschehen. Es müssen weltweit geltende Richtlinien und Normen geschaffen werden, denn es kann nicht sein, dass beispielsweise Extremismus weil er in einem Land oder Kontinent verboten ist, auf den Servern in einem Land oder auf einem anderen Kontinent seine Plattform findet. Jedwede Sperren von Seiten oder Inhalten führt zu einem Aufschrei in der Netzgemeinde und dem Verdacht der Zensur. Auch hier muss es globale Regeln geben, die transparent und nachvollziehbar sind. Freiheit ist ein sensibles Gut. Auch oder gerade in globalen Netzwerken.

Der Ruf nach kontinentaler Reglementierung macht hörbar, dass der Schreiende das Wesen und Unwesen des weltweiten Netzes nicht begriffen hat. Es wurde als grenzen- und kostenloses Angebot, als Hort der Demokratie und Freiheit, als Inkarnation von Gleichheit und Zukunft lanciert. Viele Menschen begannen damit ihre Existenz ins virtuelle Netz zu verlegen, um als Mensch der Zukunft zu gelten, als First Mover oder digitaler Mensch. Diskussionen werden in Internetforen geführt, in denen das virtuelle Sein auf seine virtuelle Freundesclique trifft, das Zuspruch in jedweden Lebenslagen spendet. Jeder Mensch ist selbstverantwortlich, wie viele Daten und Lebensweisheiten, wie viele Ereignisse und Fotos er im Internet von sich und über sein Leben preisgibt. Es gibt keinen staatlichen Zwang sein Leben durchleuchtbar zu machen, sondern nur menschlichen Exhibitionismus. Und Voyeurismus. Angebot und Nachfrage.

Es ist doch selbstredend, dass so viel Ungezügeltheit nach Kontrolle verlangt und Begehrlichkeiten weckt. Für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden ein Eldorado. Kostengünstig und von den Menschen freiwillig eingestellt. Die Agenten begeben sich nicht einmal in Lebensgefahr, sondern sitzen wohl behütet vor dem bestmöglichen Bildschirm. Die Geheimdienste der Vereinigten Staaten haben sich dabei erwischen lassen. Die Briten auch. Doch es ist sehr naiv anzunehmen, dass nur diese beiden Staaten ihre Spione und Agenten aufs Internet angesetzt haben. Auch andere Staaten neigen dazu, ihre und fremde Bürgerinnen und Bürger zu durchleuchten und archivieren. In Deutschland mit staatlichem Segen und dem unsäglichen Namen: Vorratsdatenspeicherung.

„Das Internet ist kaputt“, sekundierte Augsteins Kolumnenkollege Sascha Lobo Anfang des Monats in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Bislang hatte der selbsternannte Internet-Experte aus Berlin das weltweite Netz als das ideale Medium der Demokratie, Freiheit und Emanzipation gehalten. Nach den Enthüllungen um die Methoden der NSA sowie neuen Erkenntnissen über Wirtschaftsspionage und den „Kontrollwahn der Konzerne“ stellt Lobo nun fest, dass das Internet als Medium der totalen Kontrolle „die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft“ untergrabe und zudem als Vehikel der Wirtschaftsspionage auch ökonomisch zerstörerisch wirke.

Doch die Bewertung des WWW-Nerds, das weltweite Netz zum Born von Demokratie und Freiheit zu stilisieren, überrascht in seiner Kurzsichtigkeit sehr. Demokratie setzt Partizipation voraus. Dass diese nicht überall gegeben ist, braucht keinen Verweis auf entlegene Gegenden auf dem Erdenrund, sondern auch in ländlichen Gebieten Europas lassen geringe Bandbreiten nur wenig Teilhabe am Internet zu. Freiheit bedingt eine genaue Definition seiner Grenzen. Denn nichts ist grenzenlos, nicht einmal die Erde und nicht einmal das Weltall.

Martin Theobald
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