Aus den Wahlen in Sachsen und Thüringen gingen AFD und BSW als Sieger hervor. Die Suche nach den Ursachen hatte schon vor den Wahlen begonnen

Wecker mit Schlummerfunktion

d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2024

Man habe den Weckruf für die Demokratie deutlich vernommen. Das Ergebnis nehme man mit Demut an. Die Partei habe die Wahl trotz Verlusten dennoch gewonnen, denn sie habe dies und jenes verhindert. Der Mensch steht im Kameralicht und verkündet seine Botschaft in beflissener Routine. Es ist der Abend des 9. Juni 2024. Kurz nach 18 Uhr. Die Wahllokale der Europawahl haben soeben geschlossen. Über die Fernsehbildschirme flimmern die ersten Prognosen und Hochrechnungen. Ratlose Gesichter. Erklärungsversuche. Phrasen. Routinierte Sätze mit bedeutungsschwangeren Mienen. Oder war dies eine Szene vom vergangenen Sonntag, kurz nach Ende der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen? Die Szenen und Fernsehbilder, die Statements, die Phrasen und Betroffenheiten sind dieselben. Die Konsequenzen ebenso. Der Weckruf für die Demokratie ist eine überaus strapazierte Floskel, als ob nach jeder Wahl in Deutschland der Alarm schrillt und sich jedwede Politiker beeilen, die Schlummertaste zu drücken, als wollten sie von den Wählenden nicht gestört werden. Und als gönne man sich gerne nochmal fünf Minuten Ruhe.

Chronistenpflicht: Vergangenen Sonntag gingen die rechtsextremistische Alternative für Deutschland (AFD) und das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) aus den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen als Sieger hervor. Schwierige Regierungsbildungen stehen nun an – sowohl in Dresden als auch in Erfurt. Hier könnte die AFD in einer Koalition mit dem BSW die Regierung stellen. Kein Unding. Denn folgt man dem Hufeisenschema in der Extremismustheorie, wäre dieses Bündnis gar nicht so abwegig. Vereinfacht ausgedrückt besagt sie, dass man politisch so weit nach links rücken kann, bis man rechts steht. Und umgekehrt. Die Positionen gleichen sich an den Enden des politischen Spektrums, wenn auch die Motive andere sind.

In Thüringen ist keine Regierung ohne Placet oder gar Beteiligung der AFD möglich. Lediglich eine Koalition von CDU mit Linken und BSW, doch dieses Bündnis wurde vorab von CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt kategorisch ausgeschlossen. Nach aktuellem Stand hat die AFD im Erfurter Parlament die „Sperrminorität“ inne, also mindestens ein Drittel der Sitze. Damit kann sie bei jeder wichtigen Entscheidung mitreden, denn es gibt keine Zweidrittelmehrheit – etwa für Änderungen der Landesverfassung – mehr ohne sie. Das bedeutet unter anderem, dass sie nun mitbestimmt, welche Kandidaten in den Richterwahlausschuss kommen. Gerade in der kommenden Legislaturperiode gehen an den thüringischen Gerichten viele Richter/innen in Pension. Darüber hinaus hat die AFD Mitsprache in der Parlamentarischen Kontrollkommission, dem Gremium, das für eine Überwachung des Thüringer Verfassungsschutzes zuständig ist, der die AFD als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft hat.

Es gibt nun Gedankenspiele, das Bundesland verloren zu geben und die AFD einfach mal machen zu lassen. Man hofft auf den Sonneberg-Effekt: Im südthüringischen Landkreis Sonneberg wurde im Sommer 2023 Robert Sesselmann von der AFD zum Landrat gewählt. Er wird seitdem an der Umsetzung seiner Wahlversprechen gemessen: Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, Abschaffung des Euro, sofortige Friedensverhandlungen mit Russland.

In Sachsen errang die AFD die Sperrminorität nicht; ein einziges Mandat fehlt dazu nur. Hier können CDU und BSW die Krönungsmesse gestalten. Entweder mit der SPD oder den Grünen. Will der bisherige CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer im Amt bleiben, muss er viel Kreide fressen, denn er verwahrte sich stets gegen eine Regierungszusammenarbeit mit beiden Parteien. Und auch an der CDU-Basis werden Zweifel an einem Zusammengehen mit dem BSW laut.

Besorgniserregend sind die Analysen der Wahlergebnisse: In nahezu allen thüringischen Wahlkreisen ist die AFD stärkste Partei. Ausnahmen sind nur die städtisch geprägten Abstimmungsbezirke Erfurt, Jena und Weimar – sowie im ländlichen Raum das katholisch geprägte Eichsfeld im Nordwesten des Landes. Gleiches Bild in Sachsen: Im Wahlkreis Leipzig I kommt die AFD auf 10,1 Prozent, in Bautzen I auf 41,9 Prozent. Die beiden extremistischen, populistischen Parteien überzeugen auch die Erstwähler. Mit jeweils rund 30 Prozent für die AFD und über zehn Prozent für das BSW.

Die Suche nach den Ursachen für die Wahlergebnisse begann bereits Wochen vor den eigentlichen Abstimmungen. Als seien die Landtagswahlen nur noch eine selbsterfüllende Prophezeiung, der die etablierten Parteien macht- und wehrlos gegenüberstehen. Zur Vorab-Beschwichtigung wurden historische Linien geknüpft, die direkt von Hitlers Ermächtigungsgesetz über zwölf Jahre Nazidikatur, vier Jahre sowjetischer Besatzung, 40 Jahre Sozialismus zum Aufbrechen von Populismus und Extremismus nach drei Jahrzehnten im westlich-demokratischen Staatsgebilde reichten. Hinzu kamen Verweise auf gebrochene Versprechen auf blühende Landschaften und die Manifestierung einer vermeintlichen Unberechenbarkeit, wenn nicht sogar Unregierbarkeit von Deutschlands Osten. Es wurde nach dem Tag gesucht, als die Entfremdung beider Landesteile begann, sich vertiefte, kurz erholte und dann zu den Ergebnissen der Landtagswahlen führte. Konstruiert wurde, dass seit der Vereinigung beider deutscher Staaten im Osten ein Kontinuum festzustellen sei, in dem Parteien Zustimmung erhalten, die Deutschlands Westbindung ablehnen.

Es ist jedoch nicht nur die Westbindung, die von Menschen in Ostdeutschland abgelehnt wird, es sind dies vor allen Dingen die westlichen Werte, die den Menschen im Osten übergeholfen wurden. Über Nacht. Es gab keine gesellschaftliche Diskussion, sondern mit der D-Mark kamen die Werte – quasi als Kaufpreis für Wohlstand und Reisefreiheit. Dass es dabei in manchen Bereichen – etwa der Gleichstellung von Frau und Mann – Rückschritte gab, wurde achselzuckend hingenommen und nicht weiter thematisiert. Die damalige Verweigerung einer breiten gesellschaftlichen Debatte führt zur heutigen Glorifizierung der sozialistischen Vergangenheit vor allem bei der Jugend. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit fordert der Westen ein weitaus größeres Schuldbekenntnis als es die Bonner Republik je selbst bereit war, abzulegen.

Der Westen in seiner unnachahmlichen Arroganz und stoischen Unbelehrbarkeit weigert sich noch immer, diese Werte einer gesellschaftlichen Debatte zu stellen, sondern erklärt sie für sakrosankt. Dazu gehört etwa die „Demokratie“ als bester Wert für das beste politische System. Dem ist auch so. Doch die dogmatische Zementierung der westlichen Demokratie lässt übersehen, dass die Demokratie mit der gesellschaftlichen, technologischen Entwicklung der letzten Jahre nicht Schritt gehalten hat. Das politische System der USA liefert ein Beispiel dafür – mit einem Duopol der Parteien, einem archaisch anmutenden Wahlritual und der absoluten Ausblendung von gesellschaftlicher wie politischer Zwischentöne. Auch in Deutschland hat sich die Demokratie in den 75 Jahren gewandelt, ohne dass die politischen Institutionen sich diesem Wandel stellten. Aus der repräsentativen parlamentarischen Demokratie wurde eine Parteiendemokratie. Mit all ihren Defekten und Nachteilen. Der größte Mangel tritt in der Kanzlerschaft des Olaf Scholz zutage, in der vor allen Dingen eine Regierungspartei in Berlin sich in strikter Klientelpolitik verhaftet und um eigene Pfründe und Befindlichkeiten kümmert, in der grundlegende Wahlrechtsreformen auf die lange Bank geschoben werden, um möglichst viele Menschen in Lohn und Brot zu halten, in der Verantwortung gegenüber dem Volk hinter Parteiinteressen verborgen wird.

Auswirkungen auf die gesamtstaatliche politische Gemengelage werden die Landtagswahlen von Sachsen und Thüringen vorerst nicht haben. Übereifrig wurde auf die Schlummertaste gedrückt. Doch in drei Wochen sind die nächsten Wahlen in Brandenburg, wo derzeit der Sozialdemokrat Dietmar Woidke ein Regierungsbündnis von SPD, CDU und Grünen anführt. Meinungsumfragen sehen derzeit starke Verluste bei SPD, Grünen und Linke, starke Zugewinne beim BSW, leichte Gewinne bei der CDU. Die AFD wird wohl die SPD als stärkste Partei im Potsdamer Landtag ablösen. Spätestens dann wird die deutsche Politik aus ihrer spätsommerlichen Verschlafenheit aufwachen und Konsequenzen nicht nur diskutieren, sondern auch ziehen müssen. Insbesondere wird sie sich die Frage stellen, wie sehr und ob sie sich überhaupt von populistischen und extremistischen Parteien vor sich hertreiben lassen muss.

So richtig, tief und herzlich vereint waren die Bundesrepublik und die DDR nur jene Woche im sonnigen Sommer 1990. Zwischen dem 1. Juli und dem 8. Juli, als an dem einen Sonntag die D-Mark Zahlungsmittel in der DDR und am Sonntag darauf die Fußballmannschaft Weltmeister wurde. Dann zog man den Stecker und hoffte, kein Wecker der Welt werde die Deutschen jemals aus diesem Traum reißen. Doch es kam anders.

Martin Theobald
© 2024 d’Lëtzebuerger Land