Die Zahl der Familien, die ganz auf Homeschooling umsteigen, nimmt zu. Ein Randphänomen, an dem sich dennoch gesellschaftliche Klüfte zeigen

Another brick in the wall

Sandro,  11 Jahre alt, lernt momentan zuhause
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 13.01.2023

Wenn die anderen Schüler müde in die Schule schlürfen, steht Sandro zwar auf, braucht sich aber nicht die Jacke überzuziehen und in die Kälte zu treten, um pünktlich um 8 Uhr die Bank zu drücken. Seine Mutter, Tifenn Eyraud, hat nach einigen Jahren Schulproblemen beschlossen, ihn aus der Schule zu nehmen, um dem Elfjährigen ein Jahr lang die Möglichkeit zu geben, seine Zeit selber einzuteilen und selbstbestimmter zuhause zu lernen. „Sandro hatte eine Art Schulphobie entwickelt, er hatte morgens Angstzustände“, erzählt die Urbanistin. Er habe sich in der Schule öfter gelangweilt, weil er den Mitschülern ein wenig voraus gewesen sei, behauptet sie. Der Elternurlaub für ihren zweiten Sohn erschien ihr als passender Zeitpunkt, Homeschooling für ein Jahr auszuprobieren. Ein typischer Tagesablauf sieht in ihrer Familie zurzeit folgendermaßen aus: Sandro geht morgens seinen Interessen nach, lernt eigenständig mit den Schulbüchern, schaut sich auch mal einen Dokumentarfilm über Natur oder Wissenschaft an, oder nutzt beim Kochen die Umrechnungen als Rechenaufgabe. Zweimal die Woche kommt ein Tutor für Deutschkurse, jeden Tag wird Sport und Musik im Verein gemacht, und nachmittags stehen Aktivitäten an, etwa ein Museumsbesuch oder ein Waldspaziergang. Sandros Mutter berichtet, er sei ruhiger geworden und würde sich freuen, morgens aufzustehen.

Homeschooling bleibt im derzeit laufenden Schuljahr mit 157 zuhause unterrichteten Kindern im Grundschulalter, im Vergleich zu den rund 60 000 Kindern, die in eine private oder öffentliche Grundschule gehen, ein Randphänomen. Dennoch nimmt es zu: 2017 waren es noch 110 Kinder. In angelsächsischen Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist Homeschooling weiter verbreitet. Die gesetzlichen Rahmen variieren weltweit, in Deutschland und Schweden beispielsweise ist es illegal. Eltern, die ihre Kinder im Grundschulalter in Luxemburg zuhause unterrichten wollen, müssen lediglich einen Antrag an die schulische Regionaldirektion schicken, in dem sie ihre Motivation erläutern und ein Gespräch mit dem zuständigen Inspektor führen. Das Bildungsministerium ist dann für die Kontrolle zuständig, es soll überprüfen, ob die Kinder Lernfortschritte machen und die vom Lehrplan definierten Kompetenzsockel erreichen. Ist dies nicht der Fall, wird der interêt supérieur des Kindes nicht respektiert, kann das Kind gezwungen werden, die Schule wieder zu besuchen. Für Kinder und Jugendliche im Sekundarschulalter verläuft es ähnlich, die Anfragen werden dort allerdings direkt an das Bildungsministerium geschickt. Die Qualität des Heimunterrichts, den derzeit 48 Schüler/innen in diesem Alter genießen, wird laut Bildungsministerium vom Sekundarschuldienst überprüft – ebenso wie „das Umsetzen der Schulmission“.

Seit der Verfassung von 1848 besteht eine allgemeine Schulpflicht, der Bildungsminister Claude Meisch (DP) beabsichtigt, sie von 16 auf 18 Jahre heraufzusetzen, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das Recht auf Homeschooling gibt es seit 1912 – deshalb müsste eigentlich eher von einer Bildungspflicht die Rede sein, da das Lernen auch zuhause stattfinden darf. Das damalige Gesetz hielt die Einschränkung fest, dass die Kinder von maximal drei Familien gemeinsam unterrichtet werden durften. Im überarbeiteten Schulgesetz von 2009 wurde das Recht neu verankert, derzeit ist das neue Gesetz zur Schulpflicht auf dem Instanzenweg. Nachdem dieses Gesetz in Kraft getreten ist, soll eine Anpassung des Gesetzestextes zum Homeschooling stattfinden, die kein Motivationsschreiben der Eltern mehr vorsieht, jedoch von ihnen verlangt, ein pädagogisches Konzept vorzulegen, in dem sie darstellen, was sie beim Heimunterricht vorhaben. Die Bildung, die den Kindern zuhause zuteil wird, müsse immer mit den Werten des Schulsystems und unserer Gesellschaft übereinstimmen, heißt es aus dem Bildungsministerium. Sei das nicht der Fall, würde eine Anfrage auf Homeschooling abgelehnt.

Die Gründe, sein Kind zuhause zu unterrichten, rangieren neben gesundheitlichen Auffälligkeiten zu fundamentaler Kritik am (Schul)-System, hin zu religiösen oder moralischen Überzeugungen oder schlicht dem Glauben, ein besseres pädagogisches Konzept zu haben. Generell wird ein größerer Fokus auf das Wohlbefinden des Kindes gelegt, auf seine Autonomie und seinen Rhythmus. Dem Selbstverständnis der Eltern nach wird gelebtes, informelles Lernen, das auf Erfahrungen beruht, dem formalen Unterricht vorgezogen. Manche Homeschooler-Eltern sehen sich jedoch nicht als Lehrpersonal ihrer Kinder. Unterscheiden lässt sich dabei zwischen jenen, die zuhause stärker als Lehrkraft fungieren und am Küchentisch unterrichten, und jenen, die das sogenannte unschooling praktizieren, wo Bildung durch selbstgewählte Alltagsaktivitäten, freies Spiel und Haushaltsverantwortungen stattfindet. „Es gibt Kinder, für die funktioniert die Schule in ihrer derzeitigen Form mit einem prädefinierten Stundenplan nicht“, moniert Tifenn Eyraud. Ihr Sohn habe viel von seiner Leidenschaft fürs Lernen, seiner natürlichen Neugierde und seiner Kreativität eingebüßt. Sie beklagt, es gebe nicht genug alternative, öffentliche Schulmodelle, die dem Rhythmus der Kinder angepasst seien. Neben der Waldorfschule, die kostenpflichtig ist, existiert Eis Schoul, ein Projekt das seinen Idealen jedoch nicht immer gerecht werden konnte. Auch Katy Zago, Mitbegründerin der im Jahr 2013 gegründeten Association luxembourgeoise pour la liberté de l‘instruction (Alli), hatte sich aus Mangel an Optionen für Homeschooling entschieden. Nach zehn Jahren wollte ihre Tochter dann in die Schule, die sie seit vier Jahren zufrieden besucht. Luxemburgisch spricht sie trotz elterlicher Bemühungen nicht. Expats, die Anfragen an den Verein Alli stellen und beabsichtigen, ihr Kind zuhause zu unterrichten, würden über die möglichen Schwierigkeiten bei der sprachlichen Integration informiert, sagt Katy Zago.

Was Eltern ihrem Kind außerhalb einer schulischen Institution bieten können, hängt zum großen Teil mit ihrem eigenen sozioökonomischen Hintergrund zusammen. In diesem Sinne muss Homeschooling in Bezug auf Privilegien und Ressourcen reflektiert werden, mit der Möglichkeit, sich die Arbeit flexibel im Homeoffice oder in Teilzeit einteilen zu können, mit dem finanziellen und kulturellen Kapital, über das Familien verfügen. Auch kann man die Überlegungen mancher Homeschooling-Eltern einerseits als Umkehr auf eine auf Leistungsdruck orientierte Gesellschaft verstehen, vielleicht auch als Reaktion auf einen vor zwei Generationen noch völlig normalen, autoritären Erziehungsstil. Sie berufen sich beispielsweise auf den amerikanischen Psychologen Peter Gray, der das sogenannte self-directed learning etabliert hat, und sind der Meinung, dass extrinsische Motivationen, wie das Bildungssystem sie durch Aufgaben und Noten auferlegt, also Pflicht und Zwang, nicht nachhaltig funktionieren können.

„Dass alle Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen sollen, steht nicht zur Debatte. Nur wann, auf welche Weise und unter welchem Druck, ist die Frage“, sagt Georges Pfeiffenschneider. Er hat dreißig Jahre an öffentlichen Grundschulen unterrichtet und das Projekt Ludus (Léieruert fir Demokratie, Uechtsamkeet a Selbstbestëmmung) mitbegründet. Es existiert seit zwei Jahren und ist zum Ort für selbstbestimmtes Lernen für Homeschooler geworden. Momentan werden dort neun Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren von einem Erwachsenen bei den von ihnen gewählten Aktivitäten begleitet. Es gibt einen Garten und einen Spielplatz, die Möglichkeit, an einem Kurs teilzunehmen, wenn jemand etwas Bestimmtes lernen will, selbst Kurse oder Workshops zu geben, es wird gebastelt und Puppentheater gespielt, und – auch aus finanziellen Gründen – gemeinsam geputzt. Rollenspiele sind momentan obligatorisch, da sie zur Konfliktlösung beitragen. Das Ludus ist zu den gängigen Schulzeiten geöffnet, in den Schulferien geschlossen und Eltern zahlen einen monatlichen Mindestbetrag von 450 Euro für ein Kind. Der Ursprungsgedanke der Ludus-Gründer liegt allerdings darin, eine demokratische Schule für selbstbestimmtes Lernen (wie es sie zum Beispiel in Großbritannien in Form der Summerhill School gibt) für eine größere Anzahl an Kindern zu gründen. Doch in Luxemburg fehlt dafür bisher der legale Rahmen.

Georges Pfeiffenschneider sieht Homeschooling aufgrund der Isolation der Kinder nicht als ideal. Darin liegt einer der Hauptkritikpunkte am Heimunterricht. Dieses Argument wehren Eltern allerdings ab, geben an, es wäre zwar mit mehr Anstrengung verbunden, den sozialen Kontakt herzustellen, doch die Kinder würden immer Zeit mit Gleichaltrigen und auch anderen Alterssparten verbringen, durch Musikkurse, Sport, oder Festivals mit anderen Homeschooling-Familien, die in Ausnahmefällen auch mal drei Monate dauern können. „Kinder entwickeln sich nicht in einem luftleeren Raum, wo alles möglich ist, sondern zwischen Anpassung und Freiraum, und werden so zu Bürgern und Bürgerinnen, die lernen, mit Normen umzugehen“, sagt der Familientherapeut und Präsident der Menschenrechtskommission Gilbert Pregno im Gespräch mit dem Land. Der Prozess, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, sei kein einfacher. Aber das Loslösen von der Familie erwiese sich als wichtiger Schritt auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Seiner Meinung nach könnten die meisten Eltern den Gegenpol zum schulischen Leistungsdruck stellen, wobei er nicht ausschließt, dass manche Kinder in spezifischen Situationen im Homeschooling besser aufgehoben sind.

Die Schule fungiert neben ihrer Bildungsfunktion, das haben Familien während der Covid-19-bedingten Schulschließungen festgestellt, auch als Aufenthaltsort für Kinder, während ihre Eltern ihrem Beruf nachgehen. Viele atmeten auf, als sie die Rolle des personalisierten Lehrers wieder hinter die Schulmauern verbannen konnten. Tatsächlich ist eine gewisse Distanz zwischen Eltern und Kindern ab einem gewissen Alter förderlich für die Entwicklung aller Beteiligten, meint Gilbert Pregno. „In der Schule als sozialem Gefüge lernen die Kinder unter sich, und nehmen so eine gewisse Distanz zum Elternhaus ein. Dass sie in der Schule ihren Platz finden müssen, dass sie verstehen, dass dort andere Regeln gelten als zuhause, ist für mich ein Gewinn“, sagt er. Die Schule sei heute weniger auf die Normierung der Kinder aus, als das vor fünfzig Jahren der Fall war. Der Unterricht sei reichhaltiger geworden, ein Reichtum, dem ein familiäres Umfeld nur schwer gerecht werden könne.

Woanders, etwa im indischen Bundesstaat Ladakh oder im bergigen Nepal, nehmen Kinder zum Teil lange, gefährliche Wege auf sich, um in einem Klassenzimmer an formalem Unterricht teilzunehmen. In dieser Zeit arbeiten sie nicht auf dem Feld oder in einer Fabrik, wie das auch in Luxemburg vor zweihundert Jahren noch die Norm war. Die ersten zaghaften Gesetze zur Schulpflicht trugen hierzulande im 19. Jahrhundert maßgeblich zur Abschaffung von familiärer Kinderarbeit bei, wie Archivmaterial aus der Presse belegt. Wenn die Institution Schule wie im Westen gesellschaftlich als Errungenschaft etabliert ist, ist es leichter, sie wieder in Frage zu stellen. Dass im Schulsystem vieles grundsätzlich schiefläuft, die Schule Ungerechtigkeiten verstärkt, dass Kinder tatsächlich eine schwache Lobby haben und die Gesellschaft insgesamt kindesfreundlicher sein müsste, dürfte diese Tendenzen verstärken, und die Möglichkeit schaffen, in Extreme zu verfallen. Letztendlich ist die Freiheit, die manche Homeschooling-Familien ihren Siebenjährigen zusprechen, nämlich selbst zu entscheiden, ob sie in die Schule gehen wollen oder nicht, in vielerlei Hinsicht problematisch, da sie Konsequenzen von solch komplexen Entscheidungen selbst schlecht einschätzen können.

Wenn Staat und Eltern sich über den Begriff des Kindeswohls nicht einig werden, entscheidet die Justiz. In Deutschland gehen die Klagen von Homeschooling-Eltern vor hohen Gerichten meist so aus, dass vor der Entstehung von „Parallelgesellschaften“ gewarnt wird. Die dortige Schulpflicht ist mit einer strengen Anwesenheitspflicht verbunden, Verweigerern drohen Geldstrafen und im Extremfall der Entzug des Sorgerechts für die Eltern. In Frankreich hat Präsident Macron die Rechte von Homeschoolern aufgrund von Angst vor islamistischer Radikalisierung bis auf ein paar Ausnahmen strikt eingeschränkt, was einen großen Backlash aus der Homeschooling-Gemeinschaft zur Folge hatte, die sich zu Unrecht stigmatisiert fühlt. In Luxemburg erzählt ein Vater, der anonym bleiben will, von seinem 15-jährigen Sohn, der zuhause unterrichtet wurde und bei dem das Bildungsministerium beschloss, ihn aufgrund von Kompetenzmängeln und gegen seinen Willen zum Schulgang zu zwingen. Der Vater zieht nun vor Gericht, gegen das „Monopol des Staates, wenn es um Bildung geht“.

Sarah Pepin
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