Beim ersten grenzüberschreitenden Jobday für die Luxemburger Industrie und Logistikbranche stellten sich erwartungsgemäß mehrheitlich Grenzpendler vor

„Das ist die Realität“

Jobday in Düdelingen : Vor dem Luxair-Stand bilden sich lange Schlangen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 30.03.2018

Um neun soll es losgehen. Aber viele sind früher da. Auf der Rue Grande-Duchesse Charlotte, der Einkaufsstraße von Düdelingen, lassen Frauen ihre Männer mit laufendem Motor aus dem Auto steigen – Kiss and Fly –, dann fahren sie weiter auf der Suche nach einem Platz zum Parken oder vielleicht zur Arbeit. Arbeit ist das, was ihre Partner beim ersten grenzüberschreitenden Jobday am Dienstag zu finden hoffen. Zusammen mit der Stadtverwaltung Düdelingen und der französischen Arbeitsagentur Pôle Emploi hat die Adem diesen Tag organisiert, um Mitarbeiter für Industriebetriebe und Logistikfirmen um Düdelingen zu rekrutieren. „From Adem convocated jobseekers: please register first at our fair stand“, heißt es auf den Schildern im Foyer. Zwei Adem-Mitarbeiter an Laptops nehmen die Daten der Kandidaten auf, die versuchen, in dem kleinen Raum eine ordentliche Reihe zu bilden. 

Neben der Treppe, die in den Saal führt, in dem Arbeitgeber sich auf die ersten Gespräche vorbereiten, liegen in einem Ständer Broschüren der Adem: CV/Lettre de motivation. Darauf zeigt eine junge Frau mit frischem Blick und perfekt weißem Lächeln vor einem Apple-Computerbildschirm Arbeitslosen, wie einfach es mit ein bisschen Anleitung ist, seinen Lebenslauf und ein Bewerbungsschreiben vorzubereiten. Mit der Wirklichkeit hat das Bild wenig gemein. Dass einer der fast ausschließlich männlichen Jobsuchenden, die darauf warten, sich einem Arbeitgeber vorstellen zu können, und die eher im Alter für eine zweite oder dritte Anstellung sind, ihr Curriculum Vitae auf einem derart teuren Gerät tippen, ist eher unwahrscheinlich. Aber sie haben die Aufgabe gemeistert. Ausnahmslos führen sie eine Mappe, einen Umschlag, einen Ordner mit sich, in dem ihr bisheriges Arbeitsleben dokumentiert ist. 

Sie sind nur die ersten von fast 1 000 Jobsuchenden, die für diesen Tag nach Düdelingen bestellt wurden. Die Adem hat 360 von ihnen ausgesucht und 540 Termine mit Arbeitgebern für sie vereinbart. Beim quasi blinden „Speed dating“, erklärt die Direktorin der Adem, Isabelle Schlesser, später, trifft die Verwaltung eine Vorauswahl der Kandidaten für die Firmen, ohne dass die Arbeitgeber zuvor die Unterlagen ansehen können. Die Erfahrung habe gezeigt, dass Jobanwärter, deren Lebenslauf auf dem Papier nicht so beeindruckend wirkt, auf diese Art eine bessere Chance haben, sich vorzustellen, so Schlesser. Die französischen Kollegen vom Pôle Emploi haben 570 Kandidaten einbestellt. Obwohl der ehemalige Wirtschaftsminister Jeannot Krecké (LSAP) die Logistikbranche zur prioritären Branche in den Bemühungen zur Wirtschaftsdiversifizierung erklärt hatte, weil sie wenig qualifizierten gebietsansässigen Arbeitslosen Einstellungsmöglichkeiten böte, die keinen Job im Finanzsektor finden, werden die Grenzpendler in der Mehrheit sein. Die Logistikbranche sei im ständigen Wandel, erklärt dazu Isabelle Schlesser. Auch ein einfacher Operateur brauche heutzutage gewisse Kenntnisse. Auf der Liste der von den Firmen ausgeschriebenen Stellen stehen Berufsbezeichnungen wie „Subcontracting technician“, „Marketing specialist sheet piles“, „Digital and robotics IT analyst“, „Financial analyst operations EMEA“, „Global IT network engineer“, „Shipping dispatch clerk“, „EHS Manager for mould plant“, „Internal senior audit“, „Senior fleet analyst“ aber auch „Serrurier“, „Électri­cien“, „Chauffeur-livreuer“, „Opérateurs de production“ und „chauffeur de taxi“. 

Kurz nach neun kommt plötzlich Bewegung in die Menge, die sich Treppen hoch drängt und in den Korridoren zwischen den Ständen zu verteilen versucht. Mittendrin die Mitarbeiter der Adem, die Orientierungshilfe bieten. Neue, demütige Schlangen bilden sich vor den Tischen der rund 20 Firmen, die beim Jobday mitmachen. Wenige Minuten später bedankt sich der Mitarbeiter der Personalabteilung von Multiservices Express Delivery beim ersten Kandidaten für das Gespräch: „Merci, dass de komm bass.“ Die erste Speed-dating-Runde ist vorbei.

Ein Mann von imposanter Statur, dessen selbstsichere Bewegungen deutlich machen, dass er nicht hier ist, um eine Stelle zu suchen, sondern es in seiner Macht steht, derer zu besetzen, redet aufgebracht mit Mitarbeitern der Adem. Er sagt etwas von „Neutralität“ und dass er nun, in Absprache mit den Kollegen im Büro, gehen wird. Daraufhin packt er in entschiedenen, geräuschvollen Gesten seine Arcelor-Mittal-Fahne und Broschüren zusammen, schnappt die Tüte mit dem Gebäck, das den Blutzuckerspiegel über den Tag konstant halten sollte, und stürmt die Treppen Richtung Ausgang hinunter. Um den Jobday abzuhalten, hat die Gemeindeverwaltung Düdelingen das Gewerkschaftslokal des OGBL ausgewählt, dessen Plakate, beispielsweise für den Dokumentarfilm Streik, die Wände zieren. Vor dieser Kulisse Einstellungsgespräche zu führen, ist für den größten privaten Arbeitgeber im Land offensichtlich nicht möglich. Die Adem-Mitarbeiter fangen an zu beraten, wie, wann und wo, die Job-Interviews, die sie für Arcelor-Mittal arrangiert und zu denen sie Anwärter bestellt hatten, stattfinden können. 

Ein schmächtiger junger Mann, der bisher mit einer Tragetasche und Firmenmaterial in der Hand auf der Suche nach seinem Stand unschlüssig herumstand, tritt, nachdem er einen aufmunternden Blick der Organisatoren erhalten hat, an den freigewordenen Tisch. Er legt seine Tasche ab, hängt ordentlich seine Jacke auf den Stuhlrücken, öffnet den Reißverschluss der Tasche, nimmt Stangen heraus, steckt sie ineinander, stellt das Gerüst hinter seinem Tisch auf und hisst in einer schweifenden Bewegung die Flagge: British Steel.

British Steel ist der einzige „französische“ Arbeitgeber, den die Mitarbeiter von Pôle Emploi davon überzeugen konnten, am Jobday teilzunehmen, wie Patrick Guiné, Direktor von Pôle Emploi in der Region Mosel, später eingestehen wird. Die anderen haben verzichtet. Von den Aussagen des Infrastrukturministers François Bausch (déi Gréng), es mache keinen Sinn, tausende Arbeitsplätze zu schaffen, wenn sie zu 80 Prozent von Grenzpendlern besetzt würden, hat Guiné nicht gehört, wie er sagt. Er ist davon aber unbeeindruckt. Ohne die Miene zu verziehen, berichtet er von der umgekehrten Debatte auf der anderen Seite der Grenze. „Die Unternehmen, die Stellen für relativ qualifizierte Mitarbeiter ausschreiben, sagen uns: ‚Wir können sie nicht besetzen und ihr schickt die Kandidaten über die Grenze?’“ Er fügt hinzu: „L’essentiel, c’est que les besoins soient satisfaits.“

Das klappt so allerdings auch in Luxemburg nicht, obwohl die Arbeitgeber dort viel attraktivere Löhne bieten können als in Lothringen. Ein Drittel aller offenen Stellen kann die Adem nicht besetzen. „Wir machen Fortschritte“, berichtet Isabelle Schlesser. 2016 blieben 32 Prozent aller Stellen unbesetzt, 2017 nur noch 27 Prozent, weil die dafür notwendigen Profile weder in Luxemburg, noch in den Nachbarländern zu finden waren. In der Industrie bleiben laut Adem 60 Prozent der ausgeschriebenen Stellen unbesetzt, bei Informatik-Jobs sind es 80 Prozent. „In der Informatik“, wird sich Fedil-Präsident Nicolas Buck am Mittwoch aufregen, sei alles leergefegt. Auf Bauschs Kommentar angesprochen sagt Buck: „Mein Gefühl ist, dass Herr Bausch die Realität in den Betrieben verkennt. Er sitzt in Kirchberg. Er radelt dorthin. Er hat 25 Beamte, das sind alles Luxemburger. Er hat noch nie mit einem Grenzpendler gearbeitet.“ Besonders viele Informatiker seien französisch, weil sich in Nancy, Reims und Umgebung die Universitäten befänden, an denen sie ausgebildet werden. Ohne diese Informatiker keine Umstellung der Industrie auf „4.0“, gibt die Fedil zu verstehen, keine Umstellung der Wirtschaft auf Kreislaufwirtschaft.

„Der Arbeitsmarkt der Region ist dermaßen verwoben,“ sagt Patrick Guiné vom Pôle Emploi am Dienstag in Düdelingen, als er im Gefolge von Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) über die Jobmesse tourt, darüber dass die französischen Arbeitgeber fernbleiben und die Grenzpendler die Mehrheit der Kandidaten stellen: „Das ist einfach eine Realität.“ Bei der Pressekonferenz zum Jobday unterstreichen Schmit und sein Parteikollege, der Düdelinger Bürgermeister Dan Biancalana, wie wichtig die Industrie für Düdelingen ist. Schmit macht einen historischen Ausblick zurück in die Stahlkrise: „Die erste Fabrik schloss in Düdelingen.“ Biancalana nickt bestätigend. „Aber die Verantwortlichen haben auf die industrielle Erneuerung gesetzt“, fährt Schmit fort. Biancalana nickt erneut. „Die industrielle Erneuerung ist nichts, das irgendwann abgeschlossen ist, sondern etwas Fortwährendes.“ Mehr zustimmende Kopfbewegungen am Tisch. „Die Industrie schafft wieder Stellen in Luxemburg. Wir wissen, dass Europa Industrie braucht, eine leistungsstarke innovative Industrie. Es ist wichtig, dass Luxemburg auf die Industrie setzt.“ Stumme Zustimmung folgt. „Wir können nicht nur auf Dienstleistungen setzen“, sagt Schmit Stunden, bevor in der Hauptstadt der zweite Berufungsprozess des Luxleaks-Whistleblowers Antoine Deltour beginnt, „nicht nur auf den Finanzplatz. Der Arbeitsmarkt ist überregional. Davon profitiert Lothringen in großem Maße und davon profitiert Luxemburg ebenfalls in großem Maße.“ Schmit redet sich warm: „Beschäftigung ist keine Selbstverständlichkeit, sie fällt nicht vom Himmel!“ Doch dass Firmen wie Goodyear neue Fabriken bauen würden, sei ein Zeichen von Vertrauen, zitiert er das Vorzeigeprojekt der „Luxemburger“ Industrie 4.0. In einer hochautomatisierten Düdelinger Produktionsanlage, will der US-Konzern künftig 250 000 Reifen jährlich herstellen, mit nur 70 Mitarbeitern. 

Das sind nicht viele, aber der Konzern greift auf die Hilfe der Adem zurück, um sie zu finden. „Goodyear Mercury – recruiting now“ heißt es auf dem Banner hinter dem Stand. Daneben hänkt ein weiteres Goodyear-Plakat: „Be the driver of your own career.“ Auf dem Tisch, an dem sie Anwärter empfängt, hat Goodyear schnittige Sonnenbrillen ausgelegt. Sie versprechen den Arbeitslosen, die sich auf dem Gang darüber unterhalten, dass ihnen nächsten Monaten das Arbeitslosengeld gestrichen wird, beruflich in den Sonnenuntergang zu fahren – in einem mit Goodyear-Reifen ausgestatteten Wagen, versteht sich.

Als Arbeitsminister Nicolas Schmit nach der Pressekonferenz auf Tuchfühlung mit Arbeitgebern und Arbeitslosen geht, herrscht dichtes Gedränge. Vor dem Stand der Luxair, zwar kein lokales, aber doch ein Logistikunternehmen, hat sich eine lange Schlange gebildet. „Wir rekrutieren von allem“, erklärte dort morgens eine Mitarbeiterin einem Luxemburger Mitfünfziger auf der Suche nach „einer normalen Stelle, für die ein B-Führerschein ausreicht, vielleicht ein Wachposten“. Anders als Arcelor-Mittal scheint Luxair keine Probleme damit zu haben, neue Mitarbeiter im Gewerkschaftskasino zu treffen, obwohl ihnen der OGBL erst kürzlich vorgeworfen hat, prekäre Stellen mit Zeitarbeits- und Saisonverträgen zu schaffen.

Schmit und Biancalana schütteln Hände in der Reihe vor einem Busunternehmerstand. Ein Mann erklärt ihm, er sei hier, weil ihm Luxair-Cargo seinen zweiten befristeten Vertrag vorzeitig gekündigt habe. Schmit verspricht, mit den Verantwortlichen zu klären, das sei nicht Ordnung, der Mann habe Anrecht auf den darauffolgenden unbefristeten Vertrag. Um ihn herum füllen Anwärter auf einen Fahrerposten konzentriert Formulare eines anderen Busunternehmens aus. Sie blicken nicht auf, als der Minister vorbeigeht. Wie bei der Führerscheinprüfung müssen sie Straßenschilder erkennen und Ortschaften und Autobahnen auf einer Landkarte eintragen. Ein junger Mann versucht, an anderen Leuten vorbei zu einem Termin zu schlängeln. Als er den Minister und den Bürgermeister sieht, macht er auf der Stelle kehrt, schlägt einen anderen Weg ein. „Den Arschlöchern möchte ich nicht begegnen!“, sagt er mehr zu sich selbst, als zu den Umstehenden. Die französischen Grenzpendlerinnen, die weder verstehen, was er sagt, noch den Minister erkennen, weichen aus und machen Platz.

Michèle Sinner
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