Die kleine Zeitzeugin

Lasset die Viren zu uns kommen!

d'Lëtzebuerger Land du 24.11.2023

Die Bakterien natürlich auch. Stoßseufzen jetzt zur Vorweihnachtszeit Großeltern. Dieses altmodische aber doch praktische Bezugspersonal, nannte man sie nicht unlängst noch die Vulnerablen? Gleich rücken die Pampersbrigaden an und bringen Leben in die Bude. Die Schnief- und Triefnasen, die Hustenden und Prustenden, die Glühenden und die Getüpfelten.

Jetzt, wo die Gemütlichkeit bedrohlich kulminiert, für alle, die sich noch dem atavistischen Trieb hingeben, sich im Teufel/innenkreis der Liebsten einzubunkern. Gegen die Dunkelheit, die uns übergestülpt wird. Gegen die rauen Nächte und die grauen Tage. Hallelujah!, freudig wird in Ohrmuscheln trompetet, Tröpfchen segeln selig durch die Lüfte.

Und was ist denn derzeit in Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten so im Angebot? Der gute alte Husten, der gute alte Schnupfen, jetzt RSV geheißen, klingt nach Fußballverein, aber mit grabsteinern ernsten Großbuchstaben. Wer jetzt hustet, wird düster gemunkelt, wird es lange tun. Wem jetzt die Nase rinnt, dem rinnt sie lange. Die Klassiker natürlich, Masern, Mumps, Scharlach, Windpocken, Röteln, die meisten davon zwar bis auf kümmerliche Restchen weggeimpft. Die Maul- und Klauenseuche, die jetzt zivilisierter heißt, aber nicht wurde. Und natürlich, dazwischen, daneben, als Zugabe, alle möglichen Variationen von Nausea, Emesis und Diarrhoe, die drei Tragödinnen klingen erhabener als sie sind. Unser gutes altes Corona, ja, sowieso, so nebenbei, für alle. Corona gehört jetzt auch dazu, sagt eine Expertin gelassen. Corona ist endgültig integriert. Und gibt’s was Neues dieses Jahr? Hallo Affenpocken, habt ihr die Fliege gemacht? Läuse hingegen desertieren nicht, sie bleiben unsere treuesten und unkompliziertesten Begleiter/innen.

Hatten wir denn nicht sowieso alles? grübeln die Grufties und flashbacken sich in fiebrige Zeiten. Damals, als alle alles hatten, aber so richtig, so wie die Homöopathie es empfiehlt, als alle alles durchmachten, hochofenrot loderten bis die Eltern am Bett standen mit beklommenen Gesichtern. Und dann war man über den Berg. Dann genas man und war gesund und gewachsen, es hieß das Kind hat einen Schub gemacht. Es war richtiges Kranksein und dann Genesung. Damals, als meine Haut sich abschälte wie eine alte Tapete, und darunter war alles so frisch und neugeboren, da hatte ich doch…oder? Aber gilt das jetzt? Gilt das noch, Dr. Guggel? Haben wir Pluspunkte gesammelt und wenigstens einen Immunstatus, wenn schon sonst keinen? Können wir ihn kommen lassen, den Ansturm von Rotz Kotz Keim und Schleim?

Aber es gibt doch Antibiotika! Es ist alles gar kein Problem! versichern die Jungen und Fitten und Großelternteil schraubt Kindersicherungen auf und verteilt magische Portiönchen. Toll, diese Wunderwaffen, die alles niederballern, so dass Nachwuchs schon wieder am Kletterseil baumelt!

Aber was soll das diskriminierende Geschreibsel einer alten Hypochonderin? Die Kinder schon wieder als Keimschleudern an den Pranger zu stellen! Die die Alten und Gebrechlichen heimbesuchen, die Hinfälligen überfallen. Wie damals, es ist noch gar nicht lange her, vielleicht erinnert sich noch jemand, als Maskierte in leeren Städten angesichts von kleinen Menschen hektische Zickzackmoves hinlegten. Als die Alten sich vor ihnen versteckten, und die Kinder sich für Killer hielten.

Liegen doch gerade alle flach. Liegen doch alle brach. Die Museumsbesucher und Straßenbahnfahrerinnen und Triathletinnen und Polyamorösen und die Traurigen neben ihren nicht geleerten Pizzapappkartons, es schmeckt alles nach Pappe. Und die Boomerinnen, die gerade ins Flugzeug steigen wollten, selbst die größte Gesundheitsstreberin erwischt es und den Blutbildschönsten im ganzen Land. Und alle erzählen allen ihre Symptome die sich ähneln und doch nicht, und es ist Corona oder doch nicht, und es ist auch egal, und irgendwann fließt die Nase nicht mehr und der Kopf tut nicht mehr weh. Erhol dich! Pass auf dich auf! tönt der softe Sound aus den Sozialen Medien und es gibt jede Menge empathischer, empowernder Emojis.

Michèle Thoma
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