Anmerkungen zu Ari Asters verstörendem Kino anlässlich des Kinostarts von Eddington

Seelenlandschaften im Ausnahmezustand

d'Lëtzebuerger Land du 08.08.2025

In einer Ära globaler Dauerkrise, in der kollektive Identitäten bröckeln und das Subjekt unter dem Druck permanenter Selbstoptimierung ächzt, erscheint das Kino Ari Asters wie eine archäologische Grabung durch die psychischen Trümmerfelder des westlichen Menschen. In Hereditary zerbricht eine Familie an einem dunklen Erbe. In Midsommar führt Trauer eine Frau in einen tödlichen Kult. Beau Is Afraid zeigt die Odyssee eines paranoiden Mannes, und in Eddington gerät ein Sheriff in eine surreale Spirale der Wirklichkeitsverzerrung. Ari Asters Filme sind keine klassischen Horrorfilme im Sinne tradierter Genre-Mechanismen – keine Flucht in Schockästhetik, kein Eskapismus durch das Monströse. Vielmehr operieren sie als Studien innerer Ausnahmezustände, als visuelle Topografien eines Seelenlebens im Schleudertrauma der Gegenwart. Asters Werk ist Ausdruck einer Sensibilität, die den Horror nicht als das Andere begreift, das in die Welt einbricht, sondern als das Eigene, das aus ihr hervorgeht.

Bereits sein Debüt Hereditary (2018) entfaltet dieses Konzept mit Präzision: Die Zerstörung einer Familie nach dem plötzlichen Unfalltod der Tochter wird hier in Bildern erzählt, die sich wie Schnittwunden ins Unterbewusstsein graben. Was als Drama beginnt, gleitet unmerklich ins Alptraumhafte, wo Dämonen weniger Übernatürliches verkörpern als die unbewältigten Lasten der Genealogie: Schuld, Schweigen, das Unausgesprochene. Aster seziert hier die Familie nicht nur als Keimzelle der Gesellschaft, sondern als seelisches Biotop der Repression, der Weitergabe traumatischer Energien über Generationen hinweg. Es ist bezeichnend, dass Asters Figuren viel mehr erleiden, als handeln. Peter in Hereditary, Dani in Midsommar (2019), Beau in Beau Is Afraid (2023) und schließlich Joe in Eddington sind keine Akteure im klassischen Sinn, sondern Verlorene in seelischen Traumata, in der allumfassenden Angst. Sie dienen als psychische Projektionsflächen, auf denen das Innere sich nach außen stülpt. Beau Is Afraid treibt den Ansatz ins Extrem: Der gesamte Film erscheint als paranoides Delirium, als bizarrer Angstzustand, in dem jede Mutterbeziehung zur ontologischen Bedrohung mutiert und jeder Raum zum Spiegel innerer Zersetzung wird. Der Horror ist nicht Ursache, aber Symptom – Ausdruck eines Daseins im Zustand maximaler Verunsicherung.

Asters Kino ist durchzogen von Albtraumlogik. Seine Erzählungen folgen immer weniger den Prinzipien linearer Kausalität, sie entziehen sich bewusst konventionellen Dramaturgien. Es sind psychologische Versuchsanordnungen, in denen das Unbewusste Regie führt. Besonders augenfällig wird das in Midsommar, einem Film, der das Unheimliche ins Helle des Sonnenlichtes transponiert. Die Handlung spielt fast vollständig im gleißenden Tageslicht einer schwedischen Kommune, die sich als sanft-brutale Kultgemeinschaft entpuppt. Hier trifft individuelle Trauer auf kollektiven Ritus, westlicher Nihilismus auf archaische Sinnordnung. Die Protagonistin Dani durchläuft eine rituelle Metamorphose – vom depressiven Objekt männlicher Vernachlässigung zur sakralen Königin einer Gesellschaft, die Erlösung durch Gewalt kennt. Doch diese Katharsis ist zweideutig: Befreiung oder Identitätsauflösung? Aster liefert keine Antworten. Der Horror ist bei Aster auch ein erkenntniskritischer Prozess.

Diese konsequente Ambivalenz macht Ari Aster zu einem der wohl prägnantesten Vertreter dessen, was oft vorschnell als „Art-Horror“ etikettiert wird – einem diffusen Sammelbegriff für ein Kino, das sich ästhetisch von den Exzessen des Horrorkinos als Ausdruck eines „niederen“ Genres ab- und dem Existenziellen zuwendet. In einer Reihe mit Robert Eggers, David Robert Mitchell oder Jordan Peele steht Aster für eine neue Autorenschaft im Horrorfilm, die mit radikaler formaler Autonomie ebenso arbeitet wie mit soziopolitischer Tiefenschärfe. Dabei verdankt sein Werk nicht nur ästhetisch, sondern auch institutionell dem Studio A24 viel – einem Produktionshaus, das die Grenzgebiete zwischen Arthouse und Genrefilm kultiviert und damit neue narrative Räume eröffnet hat.

Mit Eddington nun wendet sich Aster expliziter der Schnittstelle zwischen psychischem Zerfall und gesellschaftlicher Desintegration zu. Der Film, angesiedelt im Frühjahr 2020, nutzt das frühe Covid-Pandemieklima nicht zur Rekonstruktion eines historischen Moments, sondern als verdichtete Allegorie einer westlichen Zerrüttung. Im Zentrum steht Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix), der durch die Weigerung, eine Maske zu tragen, eine lokale und schließlich gesellschaftliche Implosion auslöst. Was in aller Banalität beginnt, gerät zur ideologischen Metastasierung eines Gemeinwesens, das seine Kommunikationsfähigkeit verloren hat. Aster bedient sich dabei gezielt der Ikonographie des Westerns – staubige Straßen, das leise Versprechen einer Frontier-Gerechtigkeit –, nur um sie ebenso gezielt zu unterlaufen. In Eddington gibt es keinen Sheriff mehr, der Ordnung stiftet, sondern nur noch den zermürbten Rest eines Selbstverständnisses, das sich selbst nicht mehr trägt. Aster tastet die Bruchlinien einer Gesellschaft ab, die im Sog von Fake News, digitalem Narzissmus und libertärer Maskulinität jede Stabilität verloren hat. Smartphones fungieren als digitale Colt-Nachfolger, jedes Statement wird zur performativen Waffe im Kampf um Sichtbarkeit und Reichweite. Politisch aufgeladene Begriffe – Bitcoin, Second Amendment, Black Lives Matter, QAnon – zirkulieren nicht als Diskurs, sondern als Signifikanten ohne Referenz. Es ist ein Zustand, den Aster nicht anklagt, sondern ins Bild setzt: als Kaleidoskop einer sich selbst entgleitenden Welt. Dass am Ende John Fords Young Mr. Lincoln zitiert wird, wirkt fast zynisch – wie ein Phantomschmerz einer Vergangenheit, in der moralische Kohäsion noch möglich schien. Was Ari Aster dabei gelingt, ist nicht nur eine Diagnose des Zeitgeistes, sondern die Transformation dieses Zustands in filmische Form. Seine Werke sind durchzogen von einer hochgradigen Symbolsprache, in der sich mythologische, literarische und kunstgeschichtliche Referenzen überlagern. Sie öffnen Bedeutungsschichten, die nicht erklären, sondern verunsichern. Asters Filme verweigern sich somit dem Trost. Sie stellen keine Weltordnung her – sie zeigen, dass die Vorstellung von Ordnung selbst zum Alptraum geworden ist. Die Figuren in seinem Werk sind keine Helden, sondern Symptome. In einer Gesellschaft, in der jede Identität permanent performativ behauptet werden muss, erscheinen Angst, Scham und Schuld nicht mehr als Störungen, sondern als Grundemotionen. Die Welt ist kein Ort mehr, in dem man lebt – sie ist ein Zustand, den man durchleidet.

In einer Gegenwart, die zunehmend von einer Rhetorik der Alternativlosigkeit, des Effizienzdenkens und der affektiven Mobilisierung geprägt ist, wirkt Ari Asters Kino wie ein Störsignal – ein ästhetischer Einspruch gegen das Diktat der Klarheit. Seine Filme fordern nicht das Fürchten, sondern das Nachdenken. Sie sind keine Bewältigungsangebote, sondern Provokationen der Wahrnehmung. Asters Kino ist somit keine Zuflucht, sondern ein Spiegelraum – und manchmal ein Abgrund. Wer hineinsieht, erkennt nicht das Fremde, vielmehr aber das Vertraute im Zerrbild. Vielleicht ist das der tiefere Horror, den Ari Aster zeigt: dass wir selbst das Unheimliche sind, das wir zu fürchten haben.

Marc Trappendreher
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