Im Geimeinderat Redingen brodelt ein Konflikt um die Ämter des Zweiten Schöffen. Parteipolitik funkt dabei kaum rein. In der Gemeinde, die auf Proporz umstellt, stehen lokale Herausforderungen im Vordergrund

Proporzwahlkampf ohne Parteien

Raymond Remakel: „Parteipolitik spielt in kleinen Gemeinden trotzdem kaum eine Rolle“
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 03.02.2023

„Et war eng glacial Stëmmung“, behauptet Raymond Remakel, Gemeinderat in Redingen und Piratenpartei-Mitglied. Am Dienstagabend um 20 Uhr fand in Redingen eine Gemeinderatssitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Gemeinderat stimmte darin, dass der Zweite Schöffe Tom Faber in seinen interkommunalen Ämtern durch andere Vertreter ersetzt wird. „Seine Aufgabe war es, die Augen und Ohren des Gemeinderats zu sein, aber er war nie in den Versammlungen anwesend“, so Remakel. Um zu verdeutlichen, dass er sehr wohl bei interkommunalen Sitzungen dabei war, unterbreitete Tom Faber dem Rat sein Anwesenheitspensum in den Sitzungen des regionalen Tourismusbüros: In immerhin zehn von 15 Sitzungen sei er zugegen gewesen. Seine Ratskollegen interpretieren die Zahlen anders: Er habe ein Drittel der Sitzungen verpasst. Bürgermeister Henri Gerekens erwähnt zudem, Tom Faber habe im Réidener Syndikat lediglich an fünf der letzten 23 Sitzungen teilgenommen. Dabei hatte er ein Wochenpensum von fünf Stunden, um seine Ämter wahrzunehmen. Wegen einer Operation und eines Unfalls seiner Frau habe er sein gemeindepolitisches Engagement einschränken müssen, verteidigt sich seinerseits Tom Faber. Außerdem habe Bürgermeister Gerekens alle Termine des Centre d’initiative de gestion régional verpasst.

Am Dienstagnachmittag sei darüber hinaus ein Brief von Tom Fabers Anwalt eingetroffen, in dem dieser den Gemeinderäten unter Androhung eines Verfahrens verbieten will, über einen Vorfall in einer öffentlichen Sitzung am 12. Januar zwischen Tom Faber und seinen Gemeinderatskollegen zu berichten. Niemand aus dem Gemeinderat wollte sich bisher zur Natur des Konfliktes äußern. Ein ehemaliger Gemeindepolitiker antwortete auf Nachfrage: „Ech weess näischt, a wëll näischt wëssen.“

In Redingen finden in sechs Monaten in (fast) gewohnter Art Gemeindewahlen statt. Zwar hat die Gemeinde die Marke der 3 000 Einwohner letztes Jahr knapp überschritten und muss deshalb auf das Proporzsystem umstellen. Das Desinteresse an Parteipolitik auf Lokalebene ist jedoch mit Händen zu greifen, obwohl fast alle Gemeinderäte Mitglieder einer Partei sind. Voraussichtlich zwei Bürgerlisten werden aufgestellt: Eine auf der fast der gesamte bisherige Rat vertreten ist: Bürgermeister Henri Gerekens (CSV), der Erste Schöffe Luc Pauly (LSAP), Monique Kuffer (parteilos), Charel Welter (Pirat), Jeff Müller (CSV) und Raymond Remakel (Pirat) sowie fünf weitere Personen. Nur Tom Faber ist nicht auf der Liste. Das ehemalige LSAP-Mitglied ist dabei, sich an die Spitze einer eigenen Liste zu stellen. Die elf Kandidaten stünden nahezu fest und würden in einem Monat bekannt gegeben. Nur soviel wolle er verraten: Personen mit einem klaren parteipolitischen Profil seien nicht dabei. Die Liste mit den amtierenden Räten werde demnächst ein „moderates“ Wahlprogramm ausarbeiten. Moderat, weil man mit einem kleinen Budget auskommen müsse. Bürgermeister Gerekens spricht gerne über Ausgaben und Einnahmen: „Letztes Jahr hatten wir Einnahmen in Höhe von 15 Millionen und Ausgaben von 14,9 Millionen Euro.“ Ihn beschäftigt der Bau einer neuen Schule, der bald wegen dem Bevölkerungszuwachs anstehe. „Da kommen enorme Summen auf unsere kleine Gemeinde zu“.

Zwar orientiere man sich an Vorschlägen der eigenen Partei für die Ausrichtung der Gemeindepolitik, wie die Idee der Piraten, Gemeinderatssitzungen der Transparenz wegen aufzuzeichnen, erläutert Raymond Remakel. „Parteipolitik spielt in kleinen Gemeinden trotzdem kaum eine Rolle, – wir haben unsere lokalen Probleme“. Man verstehe sich gut untereinander, es bestünde kein CSV-Piraten-Antagonismus im Rat. Im Gegenteil, man arbeite „tipptopp“ zusammen. Ihm zufolge sollte man, wie das Syvicol vorschlägt, die Grenze für das Proporzsystem auf mindestens 6 000 Einwohner hochschrauben. Syvicol-Präsident Emile Eicher (CSV) argumentiert, um Parteilisten aufzustellen, müsse man bei fünf Parteien erst einmal 55 Leute finden. In kleineren Gemeinden würden sich viele Bürger zwar punktuell engagieren wollen, aber nicht längerfristig parteipolitisch. Bürgermeister Henri Gerekens sieht allerdings auch Vorteile, die mit der Umstellung einhergehen. Unter anderem steigt der politische Urlaub von Ratsmitgliedern von drei auf fünf Stunden. Für Bürgermeister von 13 auf 20.

Während der Kanton Redingen derzeit ein Einwohnerwachstum verbucht, war das vor 50 Jahren anders. In der Mitte des 20. Jahrhunderts lebte die Bevölkerung von landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder arbeitete in den Martelinger Schiefergruben. Doch letztere fuhren den Schieferabbau zurück, 1953 wurde die an die Gruben gekoppelte Jhangeli-Strecke für den Gütertransport eingestellt. Und 1967 wurde der Eisenbahnbetrieb der Attertlinie abgewickelt – der Kanton fühlte sich vom Rest des Landes abgeschnitten. Camille Gira, erster grüner Bürgermeister (in der Majorzgemeinde Beckerich), zeichnete 2003 in einem Forum-Beitrag einen trostlosen Kanton: „Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe geht dramatisch zurück, (…) die jungen Leute verlassen die Gemeinden, die alte Bausubstanz steht leer und verfällt, einzelne Bauernhäuser werden abgerissen“, beschrieb er den Zustand in den 60-er und 70-er Jahren. Die Chiffre „Wëlle Westen“ etablierte sich, um die Landflucht und die Charakteristiken einer strukturschwachen Region auf den Punkt zu bringen.

Aber der Wind dreht sich noch vor der Jahrtausendwende: Nach den Wahlen von 1988 kommt es zu einem interkommunalen politischen Aufbruch. Das Gemeindesyndikat Réidener Kanton wird gegründet. Daraufhin entsteht eine regionale Kindertagesstätte, eine interkommunale Gewerbezone und eine Musikschule, der Busbetrieb nach Luxemburg-Stadt und Diekirch wird erweitert, das Altenheim ausgebaut. In den Nullerjahren kommt die Renovierung des Schwimmbads hinzu sowie der Bau des Réidener Lycée. Léon „Pollo“ Bodem (LSAP) ist heute der dienstälteste Bürgermeister des Kantons. Der Useldinger ist seit 22 Jahren im Amt und blickt zufrieden auf die Zusammenarbeit im interkommunalen Syndikat zurück: „Alle neun Gemeinden waren sich einig, dass es voran gehen sollte.“ Es habe dabei kein Gezanke wegen des Standorts gegeben, obwohl insbesondere die Gemeinde Redingen von den Infrastrukturen profitiert, da diese in ihrer Kommune angesiedelt sind. Useldingen konnte sich in den letzten Jahren lediglich durch die Renovierung der Burg und den Bau der Mushrooms hervortun – Unterkünfte, die wie Pilze aussehen und ein Bed- und Bike-Tourismuskonzept beherbergen. Letztlich aber hätten alle von dem Infrastruktur-Ausbau profitiert, da Dotationen an die neun Gemeinden zurückfließen. Im Syndikat spiele dabei die Parteimitgliedschaft keine Rolle, sondern die Bedürfnisse der Region. „De Kanton ass viru Joren aus sengem Dornröscheschlof erwächt an huet sech ee Numm gemaach“, erzählt Pollo Bodem stolz.

Ähnliche Aussagen kommen von Luc Recken, Bürgermeister von Vichten. Er urteilt, Parteipolitik solle in kleinen Gemeinden und der Kantonalpolitik außen vor bleiben. Er selbst ist derzeit parteilos, sympathisiert jedoch mit Fokus und will eine künftige Mitgliedschaft nicht ausschließen. Der zweite Schöffe in Vichten, Jean Colombera, war Mitglied der ADR und Mitgründer der PID. Aber eigentlich hätten Parteianliegen in Majorzgemeinden kaum Fuß gefasst. „Ich beneide die Gemeinde Redingen, die jetzt umstellen muss, nicht“, sagt Luc Recken.

Während gemeinhin die CSV stets dominierende Partei im Kanton war, sind mittlerweile alle Parteien vertreten. Die LSAP stellt in Saeul und Useldingen den Bürgermeister, die DP in Grosbous und die Grünen in Wahl die Bürgermeisterin. „Mit dem Zuzug von Bewohnern aus dem Zentrum und Süden hat sich die Wählerschaft in den letzten beiden Dekaden gewandelt. Früher gab es in den Dörfern Familien, in denen alle Mitglieder die Partei wählte, die der Vater vorgab. Das ist heute anders, man könnte sagen, die Wähler sind erwachsen geworden“, kommentiert Pollo Bodem. Raymond Remakel ist seinerseits dabei, mit dem Pressesprecher der Piraten, Starsky Flor, der in Useldingen bei den Gemeindewahlen antritt, und seinem Gemeinderatskollegen Charel Welter eine Redinger Sektion der Partei zu gründen. Gerüchten zufolge würde der Schwiegervater von Sven Clement, ein ehemaliger Redinger Gemeindepolitiker, ebenfalls als Bindeglied zwischen der Partei und dem Kanton fungieren. „Ech weess mol net op en iwwerhaapt ee Bic vun der Partei huet“, verneint Remakel.

In Zeiten, in denen sich die Abhängigkeit von fossilen Energien aus dem Ausland rächt, sticht insbesondere die Energiepolitik des Kantons hervor. 1997 kam es zu der Initiative „Komm spuer mat! – fir eng Regioun voller neier Energie“, die von dem Gemeindesyndikat De Réidener Kanton und einem Verein getragen wird. Ihr Ziel: Den Energiekonsum optimieren (also Energie zu sparen ohne Komfortverlust) und gänzlich auf Erneuerbare umstellen. Camille Gira erinnerte sich in seinem Forum-Beitrag, dass daraufhin die Minderwertigkeitskomplexe einer ehemals abgehängten Region mit neuem Selbstbewusstsein durch Slogans wie „De Réidener Kanton weist de Wee“ gefüllt wurde. Aktuell liegt die Stromproduktion aus Erneuerbaren bei etwa 40 Prozent. Um dem 100-Prozent-Ziel näher zu kommen, visierte der Kanton 2019 den Bau von fünf weiteren Windrädern an, die 8 000 Haushalte versorgen könnten. Daraufhin wurde eine Unterschriftenaktion gegen deren Bau organisiert, bei der 735 der damals 2 800 Personen aus der Redinger Gemeinde unterschrieben. Als eine Bürgerversammlung einberufen wurde, für die alle Unterzeichner einzeln eingeladen wurden, erschienen lediglich 70 Opponenten. Dem Vernehmen nach handelte es sich um eine Tür zu Tür-Aktion, bei der Personen sich unvorbereitet eine Unterschrift aufschwatzen ließen.

Vor dem Rathaus in Redingen steht eine Kropemann-Statue. Seine Zehenspitzen zerrinnen am Stein entlang. Eine überdimensionierte Mütze und ein Vollbart verdecken sein Gesicht, an seinem Körper hängen Algen und in der rechten Hand hält er einen Krop. Der Kropemann ist ein Wassergeist, dem in einem Gedicht von Willi Goergen nachgesagt wird, Kinder zu „kropen“, die sich zu nah am Attert-Ufer bewegen. 2016 versicherten die Einwohner von Redingen jedoch gegenüber Luxembourg Times, man habe die Gestalt mittlerweile umgedeutet: Er sei kein düsterer Kinder-Fänger mehr, sondern der Beschützer des Attert-Tals. Ob er den Gemeinderat vor weiteren Turbulenzen vor den Wahlen beschützt, ist noch offen.

Stéphanie Majerus
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