Deutschland

Annäherung durch Verflechtung

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2022

Es liegen lange Röhren tief unten in der Ostsee. Sie tragen einen putzigen deutsch-englischen Namen: Nord Stream. Es gibt sie als 1 und 2. Sie sind ein Projekt aus einer lang vergangenen Zeit, der rot-grünen Regierung unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Im April 2005 wurde unter Beisein von ihm und Wladimir Putin die Vereinbarung zum Bau der direkten Pipeline von Russland nach Deutschland unterzeichnet. Gegen die Einwände von Umweltschützern, die vor den Risiken für das fragile Ökosystem Ostsee warnten, und vor allem gegen die Proteste der osteuropäischen Partner in der Europäischen Union und der Nato. Ihre damaligen Vorhaltungen: Die Gasleitung sei ein geostrategisches Projekt Moskaus zum Nachteil der Polen, der baltischen Republiken und vor allem der Ukraine. Das Land, das zu dieser Zeit scheinbar niemanden interessierte. Es galt als ein Hort von Oligarchen und Korruption, mal Moskau-treu, mal Russland-fern, dann eine Präsidentin mit auffälliger Frisur: Julia Timoschenko. Sie schickte sich an während ihrer Präsidentschaft in 2005 sowie von 2007 bis 2010 den ukrainischen Energiesektor zu regulieren, der bis dahin von undurchschaubaren Konstrukten russischer und ukrainischer Oligarchen dominiert wurde. Schon damals wurden die Gaslieferungen zu einem Dominanzspiel Russlands. Mal floss mehr, mal kam weniger an. Die Ukraine zapfe die Pipelines an, so der Vorwurf aus Moskau. Bewiesen wurde es nie. Timoschenkos Vorschlag: Ein Konsortium, an dem sich zu je einem Drittel die russische Gazprom, die Ukraine und Firmen aus der EU – allen voran deutsche – beteiligen sollten, solle das ukrainische Pipeline-Netz übernehmen. Doch ausgerechnet der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte sich gegen diesen Vorschlag. Er setzte lieber auf die seinerzeitige Doktrin der deutschen Ostpolitik „Annäherung durch Verflechtung“ deutscher und russischer Unternehmen. Im Gegenzug sollten über vielfältige Wege vor allem russische Rohstoffe nach Deutschland kommen. Ohne Umwege und Grenzen.

Für Moskau erwuchs sich so ein wichtiges Wucherpfand, mit dem es die größte Volkswirtschaft in der EU an der Angel hatte. Machtdemonstrationen, wie Russland dieses Pfand einsetzt, gab es viele. Michail Gorbatschow versuchte mit einem Lieferstopp für Erdgas die Unabhängigkeitsbestrebungen Litauens zu stoppen. Boris Jelzin hingegen brachte die Armenier, die sich zunächst prowestlich orientierten, nach einem eiskalten Winter wieder auf Kurs, scheiterte aber mit der gleichen Politik bei Georgien. Hier hat sich Russland mit Abchasien und Südossetien ebenfalls ein Einfallstor geschaffen wie mit dem Donbass in der Ukraine.

Schon nach der Annexion der Krim durch Moskau hätte die Bundesregierung unter der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Steinmeier ihre Russland- wie Energiepolitik neu ausrichten müssen. Doch Steinmeier glaubte stets daran, Putin in Gesprächen verändern zu können. Merkel hingegen betrachtete das deutsch-russische Gasgeschäft als die Sache privatwirtschaftlicher Unternehmen – dabei übersah sie beflissentlich, dass Gasprom zweifelsfrei ein staatliches Unternehmen ist. So kam es nach der Annexion der Krim zu eher milden Sanktionen gegen russische Banken und den Energiesektor, andererseits gab es grünes Licht für die zweite Nord Stream-Röhre. Damit verpufften die beschlossenen Sanktionen. In der Folge erblühte der deutsch-russische Handel und erreichte 2021 ein Allzeithoch. Beim Gasimport stieg der Anteil von Gazprom auf zuletzt 55 Prozent.

Warnungen gegen eine solche Abhängigkeit gab es viele. Selbst der US-amerikanische Präsident Barack Obama wies Berlin darauf hin, dass die Russen die Einnahmen aus den Rohstoff-Geschäften dazu nutzen, die Hochrüstung des Militärs zu finanzieren. Doch in Deutschland tat man dies als vermeintliche Verkäufermasche ab, um amerikanisches Fracking-Gas in den deutschen Markt drücken zu wollen. Der Wirtschaftsverband Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (OA) machte sogar öffentlich, dass durch Nord Stream 2 keinesfalls die Abhängigkeit von Russland größer werde, vielmehr mache sich Moskau abhängiger von Kunden, weshalb Warnungen vor politischen Risiken Unsinn seien. Im Bundestag stellten sich lediglich die Grünen gegen Nord Stream 2. Begründeten dies moralisch: In Russland würden Menschenrechte massiv verletzt, Pressefreiheit und unabhängige Justiz existierten nicht, Regimekritiker würden ausgeschaltet und die russische Luftwaffe habe gezielt Wohngebiete in Syrien bombardiert. Also müsse die Finanzierung des russischen Repressions- und Militärapparats durch den Rohstoffexport deutlich beschnitten werden.

Nach Ansicht der Verbündeten im Westen hat der wirtschafts- und energiepolitische Egoismus Deutschlands, die sich über alle Warnungen und Einwände hinweggesetzt haben, Putin letztendlich den Weg für seine aggressive Politik geebnet. Nun muss die rot-grün-gelbe Regierung die Scherben ihrer Vorgänger-regierungen in der Energiepolitik zusammenfegen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) jettet durch die Welt, um zu retten und zu kaufen, was zu retten und zu kaufen ist. Auch in Katar. Ende vergangener Woche rief er in Berlin die Frühwarnstufe des sogenannten Notfallplans Gas aus. Dies diene lediglich der Vorsorge. Die Versorgungssicherheit sei weiterhin gewährleistet. Erst in der Notfallstufe greift der Staat in den Gasmarkt ein und schützt insbesondere Haushaltskunden, Krankenhäuser, Polizei und Feuerwehr. Gleichzeitig rief er die Bürgerinnen und Bürger zum Energiesparen auf. Jede eingesparte Kilowattstunde Energie helfe, so Habeck. „Wir stellen zum jetzigen Zeitpunkt keine Beeinträchtigung der Lieferungen aus Russland fest“, sagte Timm Kehler, Vorstand des Branchenverbandes Zukunft Gas. „Die deutschen Gasspeicher sind aktuell zu 26 Prozent gefüllt und liegen damit innerhalb des Fünfjahreskorridors.“ Antworten, wie die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen verringert werden wird, sind hingegen derzeit rar. Anfang der Woche gestand Steinmeier Fehleinschätzungen in seiner Russland-Politik ein.

Martin Theobald
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