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Zwei Königsmacher und ein Realitätsverlust

d'Lëtzebuerger Land vom 01.10.2021

Die Presseberichte spotten jedweder Realität: In Berlin spielten sich zur Bundestagswahl am vergangenen Sonntag Szenen ab, die man bis dahin – in üblicher westlicher Überheblichkeit – in weniger entwickelten Staaten vermutet hatte. Fehlende Wahlurnen, improvisierte Wahlkabinen, nicht pünktlich öffnende Wahllokale, falsche Stimmzettel, nicht erreichbare Wahlämter, Chaos allenthalben. Immerhin hatten die Berlinerinnen und Berliner sechs Stimmen auf fünf verschiedenen Wahlzetteln für Bundestagswahl, Abgeordnetenhauswahl, Bezirksverordnetenversam-
mlung und Enteignungsvolksentscheid zu machen, diese wieder so zusammenzufalten, dass die Stimmabgabe nicht einsehbar war – was nicht einmal dem CDU-Spitzenkandidaten Armin Laschet und seiner Ehefrau gelang – und diese anschließend in zwei verschiedene Urnen zu werfen. Petra Michaelis, Landeswahlleiterin von Berlin, zeigte sich völlig überrascht, dass die Wählenden länger als sonst üblich in den Kabinen verharrten und es so zu langen Schlangen vor den Wahllokalen kam. Überhaupt mussten die Menschen in Berlin zunächst einmal zu ihrer Stimmabgabe gelangen. Viele Stimmbezirke im Innenstadtbereich waren durch den gleichzeitig stattfindenden Marathon zerschnitten. Ein Queren der Rennstrecke kaum möglich. Boten mit Stimmzettel-Nachlieferungen blieben im einhergehenden Verkehrschaos stecken. Verantwortung möchte keiner dafür übernehmen: weder die Landeswahlleiterin noch Andreas Geisel, Berlins Innensenator. Am 14. Oktober soll das amtliche Endergebnis feststehen. Unterlegene Politikerinnen und Politiker haben bereits angekündigt, die Wahl anzufechten.

Feststeht: Die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) hat die Wahl verloren. Minus 8,8 Prozentpunkte. Bereits vor vier Jahren, als die CDU 8,6 Prozent verlor, sprach man von einem historischen Debakel, das sich kaum mehr wiederholen ließe, schließlich seien die Christdemokraten die einzig verbliebene Volkspartei in Deutschland. Doch nun zeigte eine sichtlich ausgelaugte, verbrauchte und verbrannte Partei mit einem in allen Belangen überforderten Kandidaten, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Der Wahlkampf machte deutlich, dass die Strategie der asymmetrischen Demobilisierung nicht immer zum Erfolg führt. Bei dieser Strategie verweigert man dem politischen Gegner jedwede Debatte zu Programmen und Themen und hofft so, dessen Wählerinnen und Wähler zu demotivieren. Einen Rückgang der Wahlbeteiligung nimmt man dabei in Kauf. Angela Merkel beherrschte diese Strategie par excellence. Und zwischenzeitlich ist sie so sehr von CDU und CSU verinnerlicht worden, dass beide Parteien das Wahlkämpfen verlernt haben. Hinzu kommt das glücklose Agieren von Armin Laschet in jedweder Situation. Selbst nach der Wahl weigert er sich beharrlich, das Ergebnis und damit den Wählerwillen anzuerkennen, in der Hoffnung und Zuversicht vor allen Dingen seine eigene politische Karriere retten zu können. Laschet offenbart, dass es ihm um nichts anderes ging – vor, während und auch nach der Wahl. Das Auftreten des konservativen Kandidaten während des gesamten Wahlkampfs bis hin zur Missachtung des Grundsatzes der geheimen Wahl beschädigen derzeit die politische Kultur als auch die Demokratie und befeuern so die extremistischen Parteien in ihrer eigenen Demokratieinterpretation.

Gleichzeitig ist es aber auch ein Irrglaube, dass die Sozialdemokraten die Wahl gewonnen haben. Sie waren lediglich Nutznießer des desolaten Auftretens von CDU und CSU. So konnte sie bei vielen Menschen die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera für sich entscheiden. Olaf Scholz gelang es, durch Nichtstun und Ausblendung aller Skandale die totgesagte Sozialdemokratie in Deutschland an der Macht zu halten. Dennoch schaffte er es nicht, die SPD zurück zum früheren Zuspruch einer Volkspartei zu führen. Auch Scholz setzte auf die asymmetrische Demobilisierung. Mit Erfolg. Die Grünen hingegen müssen für sich klären, warum es der Partei nicht gelingt, ein „grünes Lebensgefühl“ in politisches Kapital umzumünzen. Eine Erklärung mag sein, dass Klimaschutz und nachhaltige Lebensweise für viele Menschen so lange lediglich das Lippenbekenntnis des Flaschenpfandsammelns und Mülltrennens bleiben wird, wie damit ein Einschnitt in die eigene bequeme Lebensrealität einhergeht. Der Partei haftet dabei das Image einer Verbotspartei an, die es nicht schafft, Klimaschutz positiv zu besetzen und ihre Kompetenz in anderen Politikfeldern zu stärken.

Nun beginnen die Kämpfe um Deutungshoheit und um künftige Regierungskoalitionen. Die Verbissenheit, mit der sich Laschet an die Macht klammert, lässt lange Koalitionsverhandlungen befürchten. Möglich sind eine sogenannte Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP, aber auch ein Jamaika-Bündnis von Christdemokraten, Grünen und Liberalen sowie eine Große Koalition von Sozialdemokraten und CDU – nun unter Führung der SPD. Das Zünglein an der Waage wird letztendlich die FDP spielen. Eine entscheidende Rolle kommt dabei zwei Männern zu: Einerseits Parteichef Christian Lindner, der bereits mit Armin Laschet eine CDU-FDP-Regierungskoalition in Nordrhein-Westfalen bildet, und auf der anderen Seite Volker Wissing, der in Rheinland-Pfalz unter der Sozialdemokratin Malu Dreyer eine sogenannte Ampelkoalition aufstellte und nach der Landtagswahl im Frühjahr bestätigen ließ. Laschet stärkt mit seinem Verhalten die FDP und macht so die Freien Demokraten zum wirklichen Königsmacher, da er ihnen eine Aussicht auf eine Alternative suggeriert. Schlösse Armin Laschet eine Regierungsbeteiligung der CDU in jedwedem Bündnis aus – als Konsequenz aus dem Wahlergebnis –, verkürzte dies die Regierungsbildung in Deutschland erheblich und würde eine politische Lähmung auch in der Europäischen Union verhindern. Diese Klarheit brauchen auch die Christdemokraten, denn im kommenden Frühjahr stehen Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und eben Nordrhein-Westfalen an.

Enttäuschte Gesichter gab es allenthalben bei den kleinen Parteien, die gerne unter „Sonstige“ zusammengefasst werden: Die Freien Wähler verpassten nach dem Aufwind im Frühjahr den Einzug in den Bundestag deutlich. Die Corona-kritische Partei Die Basis blieb weit hinter ihren eigenen Erwartungen zurück. Die vermeintlich größten Verlierer der Wahlen vom vergangenen Sonntag waren die Linke und die Alternative für Deutschland (AfD). Sowohl bei der Bundestagswahl als auch bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern und der Abgeordnetenhauswahl in Berlin musste die AfD deutliche Einbußen hinnehmen. Dennoch konnte die Partei 16 Direktmandate gewinnen, genauso viele wie die Grünen. Die AfD-Mandate wurden ausnahmslos in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erzielt. Mit Konsequenzen für die Partei: Sie wird sich in der neuen Legislaturperiode im Bundestag weiter radikalisieren, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen und mit neuer Härte zu punkten. Die Linke schaffte es, sich über drei Direktmandate in den neuen Bundestag zu retten. Auch sie hat bereits angekündigt, ihr politisches Profil zu überdenken und sich inhaltlich neu aufzustellen..

Martin Theobald
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