Wahlergebnis 2004

Die Rentenklammer

d'Lëtzebuerger Land du 17.06.2004

Vielleicht wurde am Sonntag eine historische Klammer wieder geschlossen: die Rentenklammer. Jene Rentenklammer, an der seit 1989 das ADR und als Reaktion darauf 1999 die DP verdient hatten. Zuerst das ADR, das in den letzten 15 Jahren ein Zehntel der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, viele davon von der CSV. Worauf die CSV sein vom Neid auf die Pensionen des öffentlichen Diensts geprägtes Wahlprogramm verwirklichte und erst die Pärequation, dann die 5/6-Pensionen abschaffte und schließlich die Renten im Privatsektor erhöhte. Dadurch hatte das ADR seine ursprüngliche Aufgabe erfüllt und ein Teil seiner Wähler aus dem Privatsektor kehrte am Sonntag zurück zur CSV – laut ILReS-Berechnungen rund zehn Prozent. Dann die DP, weil viele Angehörige des öffentlichen Dienstes aus Protest gegen die Abschaffung der 5/6-Pensionen der CSV 1999 den Rücken kehrten und die DP wählten. So war die DP eine Wahl lang die Rentenpartei des öffentlichen Dienstes, das Spiegelbild des ADR. Aber als treuer Koalitionspartner der CSV machte die DP fünf Jahre lang CSV-Politik – einschließlich des von allen Unternehmerverbänden kritisierten Rententisches. Deshalb konnte auch ein Teil der Wähler aus dem öffentlichen Dienst am Sonntag  zurück zur CSV kehren. Auch jene, die sich nach 15 Jahren schwarzrot gelangweilt hatten.

Nach Angaben der ILReS wählten rund 20 Prozent der DP-Wähler von 1999 diesmal CSV. So haben die Rentenpartei des Privatsektors ADR und die Rentenpartei des öffentlichen Sektors DP gemeinsam die Wahlen verloren. Wenn auch in unterschiedlichem Maß. Das ADR ging landesweit um eineinhalb Prozentpunkte zurück, nicht zuletzt, weil im Wahlkampf kein Renten- oder Saubermannthema eine Rolle spielte, zu dem sich das ADR hätte Öffentlichkeit verschaffen können. Der Verlust sieht dramatischer aus, weil es zwei Sitze verlor. Aber einer davon war ein zweiter Restsitz im Norden, den es 1999 erhalten hatte, weil es ganze 503 Stimmen mehr als die LSAP zählte. Ein wenig ist der ADR-Verlust sogar ein Sieg. Zuerst weil das ADR gerade noch seinen Fraktionstatus im Parlament retten konnte. Aber vor allem, weil er bekräftigt, was schon 1999 ersichtlich war: dass das ADR die Rentenklammer überlebt. Dass sich das Aktionskomitee für die Verallgemeinerung der 5/6-Pensionen erfolgreich in eine populistische Partei am rechten Rand der CSV verwandelt hat, die jene Landwirte, kleinen Geschäftsleute, Angestellten und Rentner anspricht, welche fürchten, bei der ganzen Rationalisierung, Deregulierung und Kompetitivität unter die Räder zu kommen. Und denen sie jene Sicherheit vor dem sozialen Abstieg, also jenen Konservatismus verspricht, den sie nicht mehr ausreichend bei der unter Jean-Claude Juncker erfolgreich modernisierten CSV finden.

Der Verlust der DP ist dramatischer. Mit einem landesweiten Stimmenanteil von 16,05 Prozent fuhr sie ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 40 Jahren ein. Und das heißt etwas bei einer Partei, deren Wahlergebnisse weit größeren Schwankungen unterliegen als die anderer Parteien. Denn ihre Stammwählerschaft ist enger als diejenige anderer Parteien. Deshalb muss sie bei jeder Wahl versuchen, die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu bündeln und die Gruppen dann als Wechselwähler an sich zu ziehen, ohne sie aber längere Zeit binden zu können. Das ist ihr diesmal deutlich misslungen. Zu den bemerkenswerten Phänomenen dieser  Wahlen gehört, dass die DP seit Mitte letzten Jahres wusste, dass sie die Wahlen verlieren würde, und dass all ihre politische Erfahrung und ihr Geld nicht ausreichten, um den Trend zu stoppen.

Noch bemerkenswerter aber ist die völlige Unfähigkeit der LSAP, als größte Oppositionspartei den kleinsten Nutzen aus dem Debakel der Regierungspartei zu ziehen. Die Liberalen wurden von ihrem Koalitionspartner kannibalisiert, die Sozialisten gingen hungrig vom Tisch. Trotz des großen Zugewinns der CSV hat sich deshalb das Kräfteverhältnis zwischen Links (37,77 Prozent) und Rechts (62,23 Prozent) im Land kaum geändert. Dass es sich sogar leicht zugunsten der Linken verschoben hat, ist vor allem auf den Zugewinn der Grünen zurückzuführen. Der arithmetische Gewinn von landesweit einem Prozentpunkt Stimmen kann nicht über die politische Niederlage der LSAP hinwegtäuschen. Die politische Bilanz fällt um so kümmerlicher aus, als die Partei mit landesweit 23,37 Prozentpunkten in Wirklichkeit auf dem Niveau ihrer historischen Wahlniederlage von 1979 (22,50 Prozentpunkte) stagniert. Das hat sicher damit zu tun, dass auch in der roten Hochburg, dem Südbezirk, die wahlberechtigte Bevölkerung immer mittelschichtiger wird. Aber auch damit, dass die LSAP derart auf jede politische Aussage verzichtete, dass viele Wähler CSV-Kandidat Jean-Claude Juncker als überzeugenderen Garanten des Sozialstaats ansahen als die Sozialisten. Die ILReS schätzt, dass die oppositionelle LSAP sogar noch Stimmen an die regierende CSV verlor. Die Sozialisten hatten die Empfehlung der CSV-Plakate, auf Nummer sicher zu gehen, beherzigt. Um  anders als 1999 nur ja nichts falsch zu machen, stellten sie sich politisch tot, um nach dem erwarteten Untergang der DP ganz einfach übrig zu bleiben. Um ein Haar wäre sogar das noch schief gegangen, wären da nicht ein gütiger Gott und enttäuschte DP-Wähler gewesen, die der LSAP am Sonntag wenigstens den ersten Restsitz im Süden  als Feigenblatt schenkten. Ohne ihn wäre die Blamage vollständig gewesen und die Partei wäre nackt zu den Koalitionsverhandlungen mit der CSV gegangen. Doch war mit 24 CSV- und 14 LSAP-Sitzen das Ungleichgewicht in einer christlich-sozialistischen Koalition seit dem Krieg noch nie so groß.

Die Voraussetzungen, um sozialistische Programmpunkte in ein Koalitionsabkommen einzubringen, sind also denkbar schlecht – wenn es sie denn in nennenswerter Zahl gibt. Angesichts einer LSAP, die anders als früher die Oppositionszeit nicht zu einem kleinen Linksrutsch nutze – außer der Abkehr vom erfolglosen Blair/Schröder-Imit@t von 1999 –, ist die Niederlage von Kommunisten und déi Lénk um so offensichtlicher. Dass die erneute Aufteilung des kleinen Wählerpotentials links von LSAP und Grünen im Süden den Verlust des letzten Mandats bedeutet, war unvermeidlich. Wobei der Stimmenunterschied zwischen KPL und déi Lénk kleiner ausfiel, als manche bei der KPL befürchteten und bei déi Lénk erhofften. Nach Berechnungen der ILReS sind es aber nicht einmal ehemalige linke Wähler, die der LSAP zum Sitzgewinn im Süden und damit zum einzigen Sitzgewinn im Land verhalfen, sondern in der Hauptsache ehemalige DP-Wähler. Die Kommunisten überleben aus Erfahrung so etwas besser als ihrer Erneuerer. Die Ironie der Geschichte will es, dass die Summe der KPL- und déi Lénk-Stimmen trotz des Rückgangs um einen Prozentpunkt gereicht hätte, um den zweiten Restsitz im Süden zu erringen – der nun an die CSV fiel.

Die CSV ist zweifellos die große Wahlsiegerin. Jean-Claude Juncker, der bei den letzten Wahlen 46 430 Stimmen erhalten hatte, kam nun auf 65 467 Stimmen. Die CSV brachte es auf bemerkenswerte Weise fertig, die breiten persönlichen Sympathien der Wähler für Spitzenkandidat Jean-Claude Jun-cker in Stimmen für die ganze Partei umzumünzen. Auch mit Hilfe von DP, LSAP und Grünen, die  ihm  wie die Heiligen drei Könige huldigen gingen, statt ihn herauszufordern. Im Zentrum, wo sie ohne den Zweit- und den Viertgewählten von 1999 antreten musste, gewann die CSV zwei Sitze hinzu. Glaubt man den Umfragen und Prognosen der vergangenen Monate, so konnte die Partei kurz vor den Wahlen ihren Einfluss landesweit noch vergrößern. Die CSV stellt aber nicht die alles beherrschende Kraft dar, zu der Kulturkampfnostalgiker sie dämonisieren. Denn mit etwas mehr als einem Drittel der Stimmen und 24 Sitzen hat sie nach einer längeren Phase des Niedergangs wieder ihr Niveau von vor 20 Jahren erreicht, also vor dem Aufkommen des ADR. Der Unterschied ist nur, dass es das ADR noch immer gibt, ein Großteil der Zugewinne der CSV auf Kosten der DP ging. Bei den nächsten oder übernächsten Wahlen könnte der Aufwärtstrend also wieder umschlagen, besonders wenn Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker nicht mehr zur Verfügung stünde.

In finsteren Zeiten sind die Wahlgewinner religiöse Parteien, die katholische und die animistische: Die Grünen, deren Ergebnisse bei den vorangegangen Wahlen wiederholt weit hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben waren, haben erstmals in allen Bezirken zweistellige Prozentergebnisse erreicht. Indem sie sich als modische, liberale Technokraten darstellten und mit dem Verschwinden der GAL im Osten die Spaltung endgültig beendeten, konnten sie nicht nur ihren Fraktionsstatus wahren, sondern landesweit zwölf Prozent der Stimmen auf sich verbuchen und zwei Sitze hinzugewinnen. Damit verfügen sie erstmals in allen Bezirken über Abgeordnete und nehmen in der Rednerfolge im Parlament die Stellung des ADR ein. Bei den Europawahlen erhielten die Grünen knapp mehr Stimmen als die DP, der Traum aller Grünen, die die Luxemburger DP mit der deutschen FDP verwechselten. Aber vielleicht gibt es bei Wahlen und Regierungsbildungen nicht nur Arithmetik und Taktieren, sondern auch eine übergeordnete historische Notwendigkeit. Und je länger der Wirtschaftsaufschwung in Europa auf sich warten lässt, um so größer wird der Druck, nach der Rentenklammer auf Kosten des Sozialstaats zu sparen. Die historische Notwendigkeit verlangte also die politische Einbindung der gegenüber dem Koalitionspartner schwächsten LSAP, die es je gab, samt der größten Gewerkschaft und ihrem ehemaligen Präsidenten. Ob die Einbindung funktioniert, hängt dann vom vielleicht interessantesten Mann der Wahlen, einem anderen Jean-Claude, ab: dem nächstem OGB-L-Präsidenten Jean-Claude Reding.

Romain Hilgert
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