Die progressiven Kräfte

d'Lëtzebuerger Land vom 15.04.2022

Die LSAP hadert mit dem Tripartite-Abkommen, muss aber an die Koalition und den Wahlkampf denken. Immerhin bleibt ihr noch die Steuerdebatte, um sich zu profilieren

Flügelkämpfe „Ist die S.A.P. nur noch ein Gefälligkeitsinstitut für verdienstvolle Supportergruppen, nur noch ein Vermittlungsbüro für Sonderwünsche, Privilegien, Präferenzposten? Oder kann die sozialistische Partei wieder zur fortschrittlich orientierenden nationalen Bewegung werden, die gleiche Chancen und gleiche Gerechtigkeit für alle in einer Atmosphäre des nationalen Fortschritts anstrebte?“, fragte Leo Kinsch am 6. Juni 1969 im Land. Nach der Regierungskrise von 1968 herrschten in der LSAP ideologische Flügelkämpfe. Antoine Weiss und Matthias Hinterscheid vom LAV, der eben erst mit dem kommunistischen FLA fusioniert war, forderten eine Erbschaftssteuer in direkter Linie und die Verstaatlichung der Mietwohnungen. Dem gemäßigten oder „rechten“ Flügel um Parteipräsident Henry Cravatte und Albert Bousser, der auf eine Wiederannäherung an die CSV drängte, gingen diese Forderungen zu weit. Es war auch eine Auseinandersetzung zwischen der gewerkschaftsnahen Escher Sektion und der vor allem aus reformistischen Nord-, Ost- und Zentrums-
politikern zusammengesetzten Parteileitung.

Flügelkämpfe hat es in der LSAP schon immer gegeben. Zuletzt war das vor zehn Jahren der Fall. Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 waren die Gewerkschaften gemeinsam auf die Straße gegangen. Nachdem die Tripartite 2010 gescheitert war, berief die LSAP einen außerordentlichen Kongress ein, auf dem die Escher Delegierten um Vera Spautz, Nando Pasqualoni und Dan Kersch heftige Kritik an der Parteileitung übten und dadurch noch Änderungen am Sparpaket der Regierung erzwingen konnten. Auch die Tripartite von 2011 scheiterte, doch diesmal wurde das Sparpaket von CSV- und LSAP-Ministern hinter verschlossenen Türen beschlossen. Bei den Kammerwahlen 2013 sanken die Sozialisten auf 20 Prozent, bei den Europawahlen 2014 verloren sie fast 8 Prozent.

Gauche unie Im Anschluss veröffentlichten die Parteiintellektuellen Ben Fayot und sein Sohn Franz, Marc Limpach und Christophe Schiltz von der Fondation Robert Krieps ihr Positionspapier Krise und Aufbruch der LSAP, das die Grundlage für die politische Neuausrichtung der Partei legen und ihr wieder zu alter Stärke (wie 1964 und 1984) verhelfen sollte. Die Autoren waren zu dem Schluss gekommen, die progressiven Kräfte könnten nur eine breite Zustimmung in der Gesellschaft finden, „wenn die LSAP diese durch eine kohärente und integriert fortschrittliche Gesellschaftsvision bündelt, in Diskussion und Kooperation mit der Zivilgesellschaft, den Gewerkschaften und allen linken, fortschrittlichen, sozialökologischen und linksliberalen Kräften.“

Nachdem die Sozialisten 2017 die Gemeindewahlen verloren und bei den Parlamentswahlen 2018 in ein weiteres historisches Tief fielen, ging es in der Corona-Pandemie wieder bergauf. Inzwischen ist die LSAP in den Umfragen zweitstärkste Partei, knapp hinter der CSV. Von größeren politischen Skandalen blieb sie zuletzt verschont (sieht man mal von Jeannot Kreckés und Etienne Schneiders Russland-Verbindungen ab). Die hohe Zustimmung hat sie aber weniger ihrer fortschrittlichen Gesellschaftsvision zu verdanken, als der außerordentlichen Beliebtheit von Gesundheitsministerin Paulette Lenert, die sie im Januar aus PR-Gründen zur Vize-Premierministerin gekürt hat und im nächsten Jahr als Spitzenkandidatin in die Wahlen schicken will. Der ewige Juniorpartner möchte endlich wieder stärkste Partei werden und zum ersten Mal in seiner Geschichte die Premierministerin stellen. Deshalb hatten die Sozialisten in den vergangenen Monaten peinlich darauf geachtet, Flügelkämpfe intern zu regeln und nach außen geschlossen aufzutreten. Kritische Stimmen wurden von der Parteileitung dazu aufgefordert, ihre Anliegen nicht in die Öffentlichkeit zu tragen.

„Solidaritéitspak“ Seit die Tripartite vor zwei Wochen am OGBL gescheitert ist, droht die Geschlossenheit wieder zu bröckeln. Es wird immer offensichtlicher, dass der „Solidaritéitspak“ eigentlich ein fauler Kompromiss ist. Zwar gewährt der mit Steuer-geldern finanzierte Steuerkredit den unteren Einkommensschichten etwas mehr Geld, als ihnen bei der verschobenen Indextranche zugestanden hätte, doch anders als bei einer Lohnerhöhung ist er nicht abgabenpflichtig und wird demzufolge auch nicht auf die Renten angerechnet. Zudem kommt die Senkung des Spritpreises vor allem den oberen Einkommensschichten zugute. Nicht zuletzt steht das Narrativ der Regierung, die prophylaktische Verschiebung der Indextranche vom August 2022 beuge einer Welle von Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit vor, auf wackeligen Beinen, denn kurz nach der Schnürung des Solidaritéitspak meldete die CSSF, dass die Gewinne der Luxemburger Banken 2021 um 30 Prozent gestiegen seien, obwohl die UEL bei der Tripartite noch geklagt hatten, wie schlecht es der Wirtschaft gehe. Das veranlasste selbst CGFP-Präsident Romain Wolff dazu, am Wochenende in einem Facebook-Post zu fragen, wo denn da die Solidarität bliebe. Bevor die Frage aufkam, ob die CGFP das Tripartite-Abkommen wieder aufkündigen wolle, hat er den Beitrag gelöscht.

Die LSAP, die sich nach wie vor als „progressive politische Kraft“ wahrnimmt, gab sich in der vergangenen Woche redlich Mühe, ihren Mitgliedern die Vereinbarung als „Akt der Solidarität von Besserverdienenden gegenüber von Geringverdienern“ zu verkaufen. Der Abgeordnete Mars Di Bartolomeo sprach im RTL Radio von einem „zolitten Accord“, was sich schon alleine daran erkennen lasse, dass die CSV ihn mittrage. Auch Ko-Präsident Dan Biancalana verteidigt im Gespräch mit dem Land den Solidaritéitspak, der trotz interner Diskussionen die Zustimmung von Parteileitung und Kammerfraktion erhalten habe. Selbst die Jungsozialisten können ihm nur Gutes abgewinnen, denn schließlich säßen Beschäftigte und Betriebe im selben Boot, sagt ihr Ko-Vorsitzender Amir Vesali dem Land. Und Max Leners, Mitglied der Parteileitung, riet in einem Gastbeitrag im Tageblatt dem OGBL, „anstatt jetzt tagelang über eine Indextranche zu streiten, wäre es besser, sich als progressive Kräfte dieses Landes auf reale Ziele zu fokussieren“: „Erhalt unserer Umwelt, eine humanistische Arbeitswelt, ein gerechteres Steuersystem und eine baldige Beendigung der Wohnungskrise“. Am 20. April wollen die für den „Kompromiss“ verantwortlichen Ministerinnen Paulette Lenert, Franz Fayot und Georges Engel in einem Facebook-Live Fragen zur Vereinbarung beantworten.

Es ist davon auszugehen, dass auch OGBL-Mitglieder an dem Event teilnehmen werden, das die Partei-leitung in weiser Voraussicht im unpersönlicheren und einfacher zu kontrollierenden virtuellen Raum veranstaltet. Kritiker gibt es in der LSAP durchaus, nur dass sie – anders als 2010 – nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten. Dan Kersch hatte zwar kurzzeitig angedeutet, seine neue Rolle als linker LSAP-Abgeordneter ernst nehmen zu wollen (d᾽Land vom 01.04.22), unterwarf sich schließlich aber dem Fraktionszwang. Tina Koch, LSAP-Vize-Präsidentin und Vorsitzende der Frauenabteilung OGBL Equality, musste ein geplantes Telefongespräch mit dem Land am Dienstag wegen einer Covid-Erkrankung absagen. Tom Jungen, LSAP-Generalsekretär und Filialleiter des Düdelinger OGBL-Büros, ließ unsere Anfrage unbeantwortet. Wieder sind es die eher linken, aber inzwischen einflusslosen Kreise aus der Escher Sektion, die Kritik am Abkommen üben und Partei für den OGBL ergreifen, diesmal jedoch vorwiegend hinter vorgehaltener Hand. Einige von ihnen verteilten in dieser Woche mit dem OGBL Traktate und der beigeordnete OGBL-Zentralsekretär Stefan Osorio hatte nach der Unterzeichnung seinen Austritt aus der LSAP publik gemacht (je nach Quelle hätten insgesamt fünf bis zehn Mitglieder die Partei verlassen). Einen offenen Schlagabtausch lieferten sich lediglich zwei has-beens: Robert Goebbels‘ von RTL veröffentlichter Leserbrief An OGBL-Präsidentin Nora Back stieß beim Patronat auf viel Zuspruch, von René Kollwelter wurde er im Tageblatt verrissen.

Wahlkalkül Das im Positionspapier von 2014 erklärte Ziel, die progressiven Kräfte zu bündeln, hat die LSAP nicht erreicht. Das Tripartite-Abkommen hat lediglich bewirkt, dass OGBL, Linke und KPL noch näher zusammengerückt sind. Dessen ist sich auch die Parteileitung bewusst. Doch insgesamt ist die Vereinbarung für die LSAP und die gesamte Regierung aus wahlstrategischen Gründen gar nicht so schlecht. Sollte der Statec mit seinen letzten Prognosen recht behalten, würde im kommenden Jahr keine Indextranche entfallen. Im April 2023 wird aber die verschobene Tranche vom August 2022 ausbezahlt. Für die Betriebe macht es wohl keinen großen Unterschied, ob sie acht Monate früher oder später fällt. Für die Politik schon. Denn im Juni sind Gemeindewahlen und im Oktober Parlamentswahlen, da kommt eine Indextranche in der heißen Wahlkampfphase gerade recht. Wohl auch deshalb hat die CSV die Vereinbarung mitgetragen, obwohl kaum eine ihrer Forderungen erfüllt wurde.

Und selbst wenn die Statec-Vorhersage nicht stimmen sollte: Die verschobene Tranche im April 2023 entfällt auf jeden Fall – sowohl bei niedriger als auch bei höherer Inflation. Und damit es im Superwahljahr nicht zu größeren Unruhen kommt, wurde bei der Tripartite jetzt schon vorsorglich vereinbart, jede potenzielle (weitere) Tranche von 2023 auf 2024 zu vertagen.

Superreiche Der OGBL, der nach zwei Jahren Anti-Corona-Demos darauf brennt, endlich wieder die Straße zu besetzen (am 1. Mai wird ein Protestzug vom Bahnhof zum Neimënster ziehen), hat der Regierung und insbesondere der LSAP nun einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch eine Chance bleibt den Sozialisten noch, um sich vor den Wahlen als progressive Kraft zu beweisen. Es ist die „große Steuerdebatte“ im Parlament, die sie nach dem Scheitern der „großen Steuerreform“ beantragt haben und die eigentlich schon Anfang dieses Jahres hätte stattfinden sollen. „Aktualitätsbedingt“ wurde sie aber auf unbestimmte Zeit verschoben. Laut Biancalana soll sie noch „vor Ende des Jahres“ stattfinden; „vor den Wahlen“ sagen Andere. Welche Forderungen die LSAP bei dieser Debatte stellen will, ist noch unklar. Die Jusos wünschen sich eine höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften und Superreichen (Vesali) oder von großen Vermögen, insbesondere Immobilien (Leners). Ko-Präsident Biancalana spricht pauschal von einem „globale Package“ für eine gerechtere Umverteilung. Mit der DP dürfte nichts davon umsetzbar sein. Mit CSV und Grünen wohl auch nur das Wenigste.

Luc Laboulle
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